Tanz im Dunkel
deinen linken Arm um meinen Hals. Und streck den rechten aus.”
“Kannst du mich halten? Ich möchte nicht unbedingt auf dem Boden landen.”
“Wenn ich mich mit der rechten Hand auf dem Boden abstütze, kann ich uns beide in dieser Position halten.” Er klang absolut überzeugt.
“Tja, du bist der Vampir.” Sie zuckte mit den Achseln.
“Was habe ich denn verbrochen?” Er klang ungehalten.
“Ich wusste nicht, dass du hier der Boss bist”, sagte sie. Es gefiel ihr, dass sie ihn aus der Reserve gelockt hatte. Sylvia hatte ihn als “Aristokrat” bezeichnet. Rue wusste bestens über Leute Bescheid, die dachten, ihr Geld stelle einen Freibrief für alles aus. Sie wusste auch, dass sie im Moment nicht rational denken konnte, doch sie schien einfach nicht aufhören zu können, wütend zu sein.
“Wärst du gern der Boss?”, fragte er kühl.
“Nein”, beeilte sie sich zu entgegnen. “Es ist nur so, dass ich …”
“Was ist dein Problem?”
“Nichts! Nichts! Machen wir einfach das verdammte Finale!” Jede Faser ihres Körpers zitterte vor Nervosität.
Sie nahm ihre Position mit fast übertriebener Präzision ein. Ihr rechtes Bein war leicht ausgestreckt und berührte sein links Bein, das er elegant nach hinten zog. Er nahm ihre Hände und zog sie an seine Brust. Sein Blick brannte sich regelrecht in ihre Augen. Zum ersten Mal war in seinem Gesicht etwas anderes als Gleichgültigkeit zu erkennen.
Es war nicht besonders schlau von mir, mich unmittelbar vor dem Biss mit ihm zu streiten, dachte Rue. Doch da ertönte schon die Musik, der Tanz mit dem Vampir begann, und sie fügte sich in das Unvermeidliche. Einmal bewegte sie sich zu weit nach rechts, und ein anderes Mal verlor sie kurz den Überblick über den Ablauf der Figuren, doch beide Male fing sie sich rasch wieder. Schließlich lehnte sie sich anmutig zurück, legte ihren linken Arm um Seans Hals, streckte den rechten graziös nach hinten … und noch weiter nach hinten … Und dann sah sie seine spitzen Fangzähne und fuhr ruckartig hoch. Sie konnte es einfach nicht verhindern.
Im nächsten Moment biss er sie.
All ihre Probleme lösten sich auf, jeder Muskel entspannte sich, und Rue fühlte sich wieder heil und ganz. Ihr Körper war weich und mit sich in Harmonie, und alles in ihrem Inneren war gut und unversehrt.
Das Nächste, was Rue mitbekam, war, dass sie mit überkreuzten Beinen am Boden saß und weinte. Sean saß neben ihr und hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt.
“So wird es nicht mehr sein”, sagte er leise, als er sich sicher war, dass sie ihn hörte.
“Was war das? Ist es für alle so?” Sie wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab, das Sean ihr gegeben hatte. Sie hatte keine Ahnung, woher er es plötzlich genommen hatte.
“Nein. Beim ersten Mal kann man erkennen, was einen Menschen am glücklichsten macht.”
Er hatte “kann” gesagt, fiel ihr auf. Sie war überzeugt, dass es auch höllisch wehtun konnte. Sean war gnädig gewesen.
“Nächstes Mal wird es sich auch angenehm anfühlen”, sagte Sean. Er fügte nicht “Wenn ich es will” hinzu, doch sie war in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen. “Aber es wird nicht mehr dermaßen überwältigend sein.”
Sie war froh, dass er so nett gewesen war, sie in das Ganze einzuführen, als sie allein gewesen waren. Natürlich hatte er auch kein Interesse daran, dass sie vor Publikum auf der Tanzfläche zusammenbrach, sagte sie sich. Sie würde dumm dastehen – und er auch. “Weißt du, wie ich mich fühle?”, fragte sie und schaute ihm dabei ganz bewusst in die Augen.
Er erwiderte ihren Blick ebenso direkt. “Ja, ungefähr”, antwortete er. “Ich merke, ob du glücklich oder traurig bist, wenn ich dich beiße.”
Er sagte ihr nicht, dass er nun immer wissen würde, wie es ihr ging. Und er sagte ihr auch nicht, dass sie süßer geschmeckt hatte als Honig, an dessen Geschmack er sich noch erinnern konnte. Süßer als jedes menschliche Wesen, das er je gebissen hatte.
3. KAPITEL
Sie hatten zwei Monate miteinander getanzt, als Sean noch etwas an Rue entdeckte. Er wollte sie gern mit “Layla”, ihrem richtigen Namen, ansprechen, doch sie erklärte ihm, dass er sie dann vielleicht einmal auch vor jemand anderem so nennen würde, der … Dann brach sie ab und bat ihn, Rue zu ihr zu sagen wie alle anderen auch.
Er folgte ihr jeden Abend nach Hause. Sean war sich zwar nicht sicher, ob sie ihn an jenem zweiten Abend bemerkt hatte, doch er sorgte
Weitere Kostenlose Bücher