Tanz im Dunkel
dafür, dass sie ihn nie mehr sah. Er war auf der Hut. Seine Absicht, so sagte er sich, war es lediglich, sich zu vergewissern, dass sie heil in ihrer Wohnung ankam, doch er analysierte zwangsläufig alles, was er sah, und zog daraus seine Schlüsse.
Während der ganzen Zeit sah er sie nur ein einziges Mal mit jemandem reden. Spät am Mittwochabend saß ein junger Mann auf den Stufen vor dem Haus, in dem sie wohnte. Sean merkte genau, in welchem Moment Rue ihn entdeckte. Ihre Schritte verlangsamten sich merklich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Sean sie fünfmal gebissen, und er konnte ihre Stimmung bereits so genau deuten, dass ihm jedes auch noch so winzige Erschrecken auffiel, das niemand sonst aufgefallen wäre.
Sean bewegte sich lautlos im Dunkeln. Er bleib nah genug hinter Rue, um ihr zu helfen, wenn sie ihn brauchte.
“Hallo, Brandon.” Rue klang nicht gerade erfreut.
“Hi, Rue. Ich dachte einfach, ich könnte vielleicht … falls du nicht zu beschäftigt bist … Hättest du Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?” Er stand auf, und im Licht der Straßenlaternen sah Sean, dass der junge Mann älter war als ein durchschnittlicher Student. Vielleicht Ende zwanzig. Er war sehr dünn, doch auf eine etwas herbe Art und Weise durchaus attraktiv.
Rue verharrte einen Moment mit gesenktem Kopf, als überlegte sie, was sie tun sollte. Jene Teile ihres Wesens, die Sean mittlerweile kennengelernt hatte, waren empfindsam, zerbrechlich und von Angst bestimmt. Doch jetzt spürte er Güte. Sie wollte diesem Mann nicht wehtun. Aber sie hatte auch kein Interesse an ihm, und Sean erschrak, wie glücklich ihn dieser Umstand machte.
“Brandon, es ist sehr nett von dir, mich auf einen Kaffee einzuladen”, sagte sie sanft. “Aber ich dachte, ich hätte mich vorige Woche klar ausgedrückt. Im Moment möchte ich kein Date. Mir ist einfach nicht danach.”
“Eine Tasse Kaffee ist kein Date.”
Sie straffte die Schultern. Sean überlegte, ob er aus dem Schatten der Häuserwand treten sollte und zu ihr gehen sollte.
“Brandon, mir liegt nichts daran, Zeit mit dir zu verbringen.” Der Klang ihrer Stimme war fest und unmissverständlich.
Der Mann starrte sie entsetzt an. “Du bist sehr schroff”, sagte er. Es klang, als würde er gleich zu weinen anfangen. Sean verzog das Gesicht.
“Ich habe deine Einladungen dreimal abgelehnt, Brandon. Meine Höflichkeit hat ihre Grenzen.”
Der Mann schob sich an ihr vorbei und eilte so hastig davon, dass er beinahe eine Mülltonne umgeworfen hätte. Rue drehte sich um und sah ihm nach. Ihre Haltung war aggressiv. Auf Menschen mochte sie unbarmherzig wirken, doch Sean merkte ihr an, wie unangenehm es ihr war, derart streng mit einem Mann umzugehen, der so harmlos wie ein anhängliches Hündchen wirkte. Nachdem Rue die Stufen zur Haustür hinaufgegangen war, schlenderte Sean davon und dachte über diese schöne Frau nach, die keine Dates wollte. Eine Frau, die unter vielen Schichten unattraktiver Kleidung versteckte, wer sie wirklich war … Eine Frau, die absichtlich ruppig reagierte, obwohl sie viel lieber freundlich sein würde. Rue May – Layla LaRue LeMay – versteckte sich. Doch wovor? Beziehungsweise vor wem? Nun tanzte er schon zwei Monate lang mit ihr und wusste im Grunde nichts über sie.
“Wir haben einen Anruf von Connie Jaslow bekommen”, teilte Sylvia zwei Wochen später mit. “Sie möchte drei Tanzpaare für eine Party engagieren. Da es warm ist, will sie unbedingt Südsee-Romantik.”
Rue und Sean, Julie und Thompson sowie Megan und Karl, das dritte Tanzpaar, saßen auf den gepolsterten Klappstühlen, die Sylvia normalerweise immer an die Wand stellte. Für die heutige Besprechung hatten sie die Stühle vor Sylvias Schreibtisch geschoben.
“Sie hätte gern, dass die Mädels im Stil von Dorothy Lamour angezogen sind und die Jungs einen Lendenschurz und Fußreifen tragen. Ihr Wunsch ist also eine Art Insulaner-Look.”
“Um Gottes willen!”, rief Karl. Vor lauter Entrüstung schlug sein deutscher Akzent stark durch.
“Connie Jaslow ist einer unserer besten Stammkunden”, entgegnete Sylvia. Ihr Blick schweifte von einem zum anderen. “Die Idee ist albern, das sehe ich auch so. Aber Connie zahlt gutes Geld.”
“Sehen wir uns mal die Kostüme an”, schlug Julie vor. Rue war mittlerweile der Ansicht, dass Julie ein herzensguter Mensch war – und fast ebenso pragmatisch wie Sylvia.
“Das war ihr Vorschlag.” Sylvia hielt eine Zeichnung hoch.
Weitere Kostenlose Bücher