Tanz im Mondlicht
Margaret wusste aus eigener Erfahrung um die Schwierigkeiten, eine große Institution mit Personal zu besetzen, und war um Nachsicht bemüht. Die Pflegerinnen nickten ihr lächelnd zu, aber keine begrüßte sie mit »Hallo, Margaret« – ob laut oder leise.
Schniefend zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel und trocknete ihre Augen. Dann setzte sie wieder eine freundliche Miene auf. Sie hatte ihren Töchtern immer gepredigt, und nicht nur ihnen, sondern auch ganzen Scharen von Schülern, dass Optimismus anziehend wirkt und stets ein guter Nährboden für den Erfolg in der Welt ist. Margaret wusste, dass sie ihren Optimismus bewahren musste, koste es, was es wolle.
Während sie die Sonne mit dem lächelnden Gesicht betrachtete, versuchte sie vergeblich, das Lächeln zu erwidern; sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war ihr ein Seufzer entschlüpft. Denn der kratzende Mann wandte sich zu ihr um.
»Die tun so, als wären wir zwölf«, sagte er.
»Entschuldigung?«
»Das Pflegepersonal. Verwendet Zeichen, als wären wir Kinder. Was bilden die sich denn ein? Dass wir unser Gehirn an der Garderobe abgegeben haben?«
Margaret schmunzelte wider Willen. »Ich weiß, was Sie meinen. Ich habe fünfundvierzig Jahre lang in einer Schule unterrichtet; man kann erwarten, solche Zeichen in der ersten Klasse zu sehen. Zwölf wäre also zu alt.«
»Sie haben recht. Sie tun so, als wären wir fünf. Sie sind also Lehrerin?«
»Zuletzt Rektorin an einer Highschool.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich war Richter an einem Nachlassgericht. Hier ist es üblich, sich mit seinem früheren Beruf vorzustellen. Damit niemand auf die Idee kommt, wir wären nichts als ein weißhaariger Klotz am Bein, der den ganzen Tag vor sich hin dämmert. So wissen sie, dass wir früher anders waren. Mein Name ist Ralph Bingham.«
»Hallo, und ich bin Margaret Porter.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie endlich kennenzulernen. Ich habe Sie an meiner Tür vorbeifahren sehen, aber bis heute Morgen war ich bettlägerig, zwei Wochen lang. Hatte Probleme mit dem grünen Star. Kommen Sie … oft hierher?«
Sie lächelte über den Scherz, doch gleichzeitig spürte sie, wie eine Flutwelle der Empfindungen in ihr aufstieg und ihre Augen sich erneut mit Tränen füllten. »Leider«, antwortete sie.
»Ach, so schlecht ist es hier gar nicht. Ein Ort, der Cherry Vale heißt, kann doch nicht zum Davonlaufen sein.«
Sie versuchte zu lächeln, musste aber ein Schluchzen unterdrücken. »Meine Töchter haben das Heim ausgesucht. Ich habe zwei wunderbare Töchter.«
»Ich habe drei Töchter«, sagte Ralph. »Und einen Sohn.«
»Wie schön.«
»Ich weiß nicht«, grollte Ralph. »Heute ist Sonntag, und sie haben versprochen, mich abzuholen und mit mir eine Spazierfahrt zu unternehmen. Wenn sie Wort halten, freue ich mich. Andernfalls bleibt mir immer noch Zeit, mein Testament zu ändern. Was ist mit Ihnen? Kommen Ihre Töchter Sie heute besuchen?«
»Sylvie schon.« Margaret verstummte. »Meine ältere Tochter Jane ist nach New York zurückgekehrt.«
»New York? In den Big Apple?«
»Ja. Sie hat den größten Teil des Frühjahrs hier verbracht und bei der Heimunterbringung geholfen. Aber sie ist Geschäftsfrau … leitet eine namhafte Orei …«
»Eine was?«
»Korei«, verbesserte sich Margaret. Sie wusste, dass ihr gerade das Wort entfallen war … sie runzelte die Stirn und versuchte, den Faden wiederzufinden. »Konditorei«, fiel es ihr endlich ein. »Jane hat eine eigene, namhafte Konditorei.«
»Aha«, sagte Ralph.
»Sie …« Margarets Stimme verklang. Sie hatte Jane weinen sehen. Am letzten Tag ihres Aufenthalts hatte sie Margaret besucht und sie von ihrer Rückkehr nach New York in Kenntnis gesetzt. Margaret hatte ihr für alles gedankt und sie ermutigt, sich mit ihrer Tochter zu treffen – aber Jane hatte gemeint, der Zeitpunkt sei ungünstig und sie werde nach New York zurückkehren.
Margaret hatte nichts tun können, um sie aufzuhalten.
»New York ist nicht weit weg«, sagte Ralph. »Sie kann jederzeit zu Besuch kommen.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Margaret traurig; sie wusste, Rhode Island besaß ein Kraftfeld, das ihre Tochter fernhielt.
Ralph kratzte abermals seine Hand. Margaret musterte sein Gesicht. Ihm fehlten mehrere Backenzähne, und die Haut auf seinen Wangen war schuppig. Seine weißen Haare konnten eine Kopfwäsche vertragen – Schuppen waren überall auf sein dunkelkariertes Hemd gerieselt. Früher schien
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