Tanz im Mondlicht
lernen, um auf die Brown zu kommen. Und an der Brown hatte sie büffeln müssen, um ihre Spitzennoten zu halten. Janes tragische Geschichte war ein anschauliches Beispiel dafür, was Liebe anrichten konnte.
Und so hatte Sylvie mit ihren Gefühlen hinter dem Berg gehalten. Sie hatte zu Hause gewohnt, den Beruf einer Bibliothekarin ergriffen – an der gleichen Schule, an der ihre Mutter Rektorin war, so dass sie gemeinsam zur Arbeit fuhren – und die Liebe an sich vorüberziehen lassen.
Und dann war John in ihr Leben getreten. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte sie ihr Herz vielleicht niemals geöffnet. Aus der erhabenen Höhe der akademisch Gebildeten hatte sie auf ihre Schwester hinabgeblickt. Tief in ihrem Inneren war sie überzeugt gewesen, dass Jane sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben, sich die Probleme ganz allein aufgehalst hatte. Und es war ihr nie gelungen, sie so weit zu verarbeiten, um mit sich ins Reine zu kommen und regelmäßig nach Hause zurückzukehren. Weil Sylvie sie vermisst hatte.
»Kann ich dir etwas sagen?«, sagte sie nun zu John.
»Alles.«
»Es geht um meine Schwester. Ich war ihr gegenüber unfair.«
»In welcher Hinsicht?«
»All die Jahre, als sie in New York lebte und nie nach Hause kommen wollte … ich war so wütend auf sie. Ich war der Meinung, ihr Leben sei verkorkst. Sie hatte einem Augenblick der Schwäche nachgegeben – mit ihrem Freund von der Brown – und ihr Leben ruiniert.«
John hörte schweigend zu.
»Ich fühlte mich ihr haushoch überlegen«, gestand Sylvie, die Kehle wie zugeschnürt. »Jahrelang.«
»Jetzt nicht mehr?«
Sylvie schüttelte den Kopf, unterdrückte ein Schluchzen. »Nein.«
»Was hat sich geändert?«
»Du bist in mein Leben getreten. Bis dahin wusste ich nicht, was Liebe ist. Dass sie einen Menschen völlig verwandelt.«
»Mich hat sie auch verwandelt.« John drückte sie zärtlich an sich.
Plötzlich drang der Schrei eines Seetauchers vom See herüber. Markerschütternd, leidenschaftlich, außer Kontrolle. Sylvie schloss die Augen. Der Schrei erinnerte sie an Janes herzzerreißendes Klagen, nachdem sie Chloe zur Adoption freigegeben hatte. Sylvie war hilflos gewesen, hatte nichts tun können.
»Ich wünschte, ich könnte Jane helfen«, seufzte sie.
»Sei einfach für sie da. Mehr kannst du nicht tun«, meinte John.
»Wie kommt es, dass du so viel über die Liebe weißt?« Sylvie wandte sich halb um und sah ihn an. Seine großen braunen Augen, die hohe Stirn und die sanfte Miene waren ein tröstlicher Anblick, und sie lächelte.
»Meine Eltern waren die Ersten, die mir zeigten, was es damit auf sich hat. Und dann bin ich dir begegnet.«
»Ich wünschte, ich hätte deine Eltern kennengelernt«, sagte Sylvie. John hatte ihr erzählt, dass sie vor fünf Jahren gestorben waren, im Abstand von sechs Monaten.
»Sie hätten dich ins Herz geschlossen.«
»Danke. Meine Mutter hat dich ebenfalls in ihr Herz geschlossen. Obwohl mein Vater …«
»Dein Vater verdient diesen Namen nicht.« John drückte sie an sich. »Wie er deine Familie im Stich lassen konnte, ist mir unbegreiflich.«
»Mir auch.«
»Kinder müssen spüren, dass sie von ihren Eltern geliebt werden«, sagte John. »Bedingungslos, ohne Wenn und Aber.«
Sylvie blickte zum Himmel empor, ihr Herz war schwer. Er hatte recht. Sylvie – und Jane – waren der lebendige Beweis, zwei Mädchen, die ohne die Liebe ihres Vaters aufgewachsen waren. Doch dann dachte sie an Jane und ihre Tochter. In Chloes bisherigem Leben war Jane nicht vorhanden gewesen. Aber niemand hatte sie mehr geliebt als Jane.
»Du denkst an deine Schwester«, sagte John, dem Sylvie die ganze Geschichte anvertraut hatte.
Sie nickte, unfähig, zu sprechen.
»Die nächste Sternschnuppe gehört ihr.«
»Sternschnuppe?«
»Ja. Bei der nächsten Sternschnuppe, die wir sehen, wünschen wir uns etwas für sie – dass sich für Chloe und sie doch noch alles zum Guten wendet.«
»Jane und Chloe«, flüsterte Sylvie und blickte angestrengt zum Himmel empor.
Es verging einige Zeit. Obwohl sie den ganzen Abend lang jede Minute zwei oder drei Sternschnuppen gesichtet hatten, war es mit einem Mal ruhig am Himmel. Die Sterne leuchteten hell, die Milchstraße zeichnete sich im dunkelsten Teil des Firmaments ab, aber es tauchte keine einzige Sternschnuppe mehr auf.
Sylvie dachte an Jane. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, aber immer noch ihre ältere Schwester, mit Zöpfen und eindringlichem Blick.
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