Tanz im Mondlicht
Greuel gewesen war, ihre Adoptivmutter zu belügen. Sie wünschte, sie könnte den Moment rückgängig machen, die Wogen glätten. Aber wie? Chloe befand sich in einer Krise – eine Situation, an die sich Jane nur zu gut erinnerte. Sharon Chadwick würde bald genug einbezogen sein … es war Jane ungeheuer schwergefallen, sich der Begegnung mit ihr zu stellen. Die beiden Frauen hatten sich angeschaut, und Jane war sicher, dass Sharon über kurz oder lang zwei und zwei zusammenzählen und die Wahrheit entdecken würde.
Die Ähnlichkeit war ja auch nicht zu übersehen. Sie hatte die gleichen Augen wie Chloe. Und die Liebe zu dem Mädchen, das sie beide als ihre Tochter betrachteten, war ihr ins Gesicht geschrieben.
Langsam fuhr sie vom Parkplatz herunter. Chloe wollte nicht an einer Tankstelle oder einem Restaurant anhalten. Sie bestand darauf, dorthin zurückzukehren, wo sie schon einmal gewesen waren – auf die schattige Landstraße, wo sie im Gebüsch den Urintest gemacht hatte. Jane fuhr also in Richtung Osten, zutiefst aufgewühlt. Sie kamen an der Schnellstraße vorbei, die nach Cherry Vale führte. Sie kamen an einem Wegweiser vorbei, auf dem PROVIDENCE – 10 MEILEN stand.
Anfang und Ende. Providence, wo Chloe gezeugt worden war, und Cherry Vale, wo Janes Mutter den Rest ihres Lebens verbringen würde. Der Kombi, in dem sie saßen, kam ihr wie eine Zeitmaschine vor. Sie dachte an Dylan – seinen durchdringenden Blick, als er sich dem Wagen genähert und Chloe daran zu hindern versucht hatte, mit Jane wegzufahren. Einen Moment lang, als sie Sharon Chadwick mit Chloe im Einkaufszentrum entdeckte, hatte Jane gedacht, Dylan hätte ihnen seine Schwägerin nachgeschickt.
Die Fahrt verlief schweigend, sowohl Jane als auch Chloe waren in Gedanken versunken. Dem Augenblick haftete eine Aura der Unehrlichkeit an. Vielleicht hatte die Lüge, die sie Sharon Chadwick erzählt hatte, alles verschlimmert. Chloe war bei der Behauptung zusammengezuckt, sie habe eine Besorgung für sich selbst gemacht. Sie wusste nun, wie leicht es ihr fiel, zu lügen.
Und nicht nur zu lügen – sondern auch zu betrügen.
»O Chloe«, entfuhr es ihr.
Chloe blickte sie verstohlen an – was Jane nicht entging. Die Fahrt unterschied sich merklich von der letzten. Beim ersten Mal hatte Jane das Gefühl gehabt, dass Chloe sie als rettenden Engel betrachtete. Inzwischen hatten sie sich beide in ein falsches Spiel verstrickt.
Jane fuhr an den Straßenrand, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Dylan kannte die Wahrheit; es war nur eine Frage der Zeit, bis er damit herausrückte. Sie blickte in den Rückspiegel, in ihre eigenen hellblauen Augen. Sie schluckte, sah zu Chloe hinüber – die gleichen hellblauen Augen.
»Warum halten wir an?«, fragte Chloe.
Jane holte tief Luft. »Schau mich an.«
»Was?«
»Siehst du es nicht?«, fragte Jane mit brüchiger Stimme.
»Was soll ich sehen?«
»Wer ich bin.«
»Du bist Jane. Du backst unsere Pasteten.« Sie versuchte zu lachen, aber sie spürte, dass der Spaß nun vorbei war. »Du bist die Pastetenlady.«
Jane schloss die Augen, grub ihre Fingernägel in die Handflächen. Sie hätte am liebsten geschwiegen, aber es gab kein Zurück mehr. Die Wahrheit musste ans Licht.
»Ich bin noch etwas anderes«, sagte Jane leise. Die Sommerluft war drückend heiß, kein Lüftchen regte sich. Die Fenster des Wagens standen offen, und irgendwo in unmittelbarer Nähe, hinter den Bäumen, fuhr ein Eiswagen vorbei; die Glocke bimmelte beharrlich.
Chloe musterte sie, hielt die weiße Papiertüte in der Hand. Ihr Blick war intensiv, durchdringend; eine senkrechte Falte bildete sich zwischen ihren dunklen, feingezeichneten Brauen. Ein Laserblick, den Jane geradezu spürte, als sich die Teile des Puzzlespiels mit einem Mal zusammenfügten und ein klares Bild ergaben.
»Du bist …« Chloe schlug die Hand vor den Mund.
»Ich bin deine Mutter.«
»Meine …«
»Ich bin deine Mutter«, sagte Jane abermals, als erhielte das Bekenntnis durch die Wiederholung doppeltes Gewicht.
Chloe starrte sie an, als redete Jane in einer fremden, unverständlichen Sprache. Ihre Augen weiteten sich. Sie nahm die Farbe und Form von Janes Augen wahr, die Konturen ihres Mundes, die ausgeprägten Wangenknochen.
»Ich habe von dir geträumt«, flüsterte Chloe.
»O Chloe … und ich von dir.« Janes Stimme brach.
»Warum?«, fragte Chloe. »Warum hast du mich weggegeben?«
»Ich war sehr jung. Nicht viel älter als
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