Tanz im Mondlicht
gegangen bin. Ich habe ihm vorgeflunkert, dass ich frische Luft schnappen wollte.«
»Das kann man nicht vergleichen.«
»Richtig. Lügen sind immer unterschiedlich, und erstrebenswert sind sie auch nicht. Aber manche entspringen weniger verwerflichen Motiven. Amandas Lügen wurzelten in reiner Selbstsucht. In der Bereitschaft, dich zu hintergehen.«
»Es reicht!«
»Du sagst es. Amanda ist tot. Du kannst nicht jeden Menschen danach beurteilen, was sie dir angetan hat. Jane ist anders. Sie hat aus Liebe gelogen.«
»Das sagst ausgerechnet du? Sie kommt nach Rhode Island, um dir deine Tochter wegzunehmen, und du nimmst sie in Schutz?«
Sharon schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht versucht, mir Chloe wegzunehmen. Sie wollte sie nur ein wenig kennenlernen. Weil sie ihre Tochter liebt.«
Dylan lief bei ihren Worten ein Schauer über den Rücken.
»Du müsstest doch wissen, was für ein Gefühl das ist«, fuhr Sharon fort. »Und was du für Jane empfindest. Ich glaube, sie war genau das, was du gebraucht hast.«
»Und wenn schon? Es ist vorbei.«
»Mit dem ›vorbei sein‹ hat es eine sonderbare Bewandtnis. Dieses kleine Wort hat allem Anschein nach seine eigenen Regeln.«
»Wovon redest du? Ich war der Meinung, du würdest nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Gerade du müsstest sie doch eigentlich hassen für das, was sie in diesem Sommer angerichtet hat.«
»Dylan – gerade ich verstehe sie. Ich bin schließlich auch Mutter.«
Das Blut rauschte in Dylans Ohren. Er dachte daran, wie er Jane das letzte Mal in den Armen gehalten hatte. Er dachte an ihren Blick, als sie mit Chloe in die Einfahrt fuhr und ihn mit Sharon reden sah. Der Verrat lastete immer noch schwer auf ihm: Das Schlimmste war nicht das, was sie ihm, sondern was er ihr damit angetan hatte. Sharon war richtig informiert: Jane lebte wieder in New York. Dylan hatte eine Postkarte von ihr erhalten. Nur eine Ansichtskarte von Greenwich Village, mit den Worten »Es tut mir so leid« auf der Rückseite.
Die Geländemaschinen wurden lauter. Auf der Veranda brannte kein Licht, so dass die Motorradfahrer offenbar glaubten, Dylan habe sich zur Ruhe begeben. Wut staute sich in ihm auf. Er dachte an sein Terrain, in das die Rowdys widerrechtlich eindrangen, dachte an alles, was er verloren hatte. Was Sharon nicht wusste, war, dass es zu spät war. Bisweilen war der Schaden zu groß, um ihn wieder gutzumachen. Er ging zum Schrank neben der Tür und holte sein Gewehr heraus.
»Was hast du vor?« Sharon packte seinen Arm.
»Das ist Hausfriedensbruch«, erwiderte er kalt. Eine Waffe in der Hand zu halten war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Die Verbrecherjagd fiel ihm hundertmal leichter als ein Gespräch mit Sharon über sein Herz. Er war sogar froh über die Gelegenheit, zu handeln, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Tu nichts Unbedachtes«, warnte ihn Sharon.
»Keine Bange«, sagte er, von dem Gefühl überwältigt, dass er ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte.
Chloe war in ihre Collage vertieft. Ihr Vater hatte ihr einen Stapel alter Zeitschriften überlassen. Schere, ein Bainbridge-Brett als Bastelunterlage und doppelseitiges Klebeband lagen in Griffweite. Sie hatte Fotos und einzelne Wörter ausgeschnitten, die sie nun zu einer Traumbild-Collage zusammenstellte.
Chloe wusste, manche Gefühle waren so groß, dass ihr die Worte fehlten. Sie entflohen ihrem Gedächtnis, ließen sie in einem Zustand stummer Verwirrung zurück. Die Empfindungen beschworen eine Meuterei in ihrem Inneren herauf, und sie fürchtete, das jüngste weibliche Todesopfer einer Herzattacke zu werden, ohne eine vorausgehende Erkrankung, der man die Schuld daran anlasten könnte.
Durch die geöffneten Fenster strömte die kühle Plantagenluft herein, die ihre Papierschnitzel kräuselte. Die Katzen hatten sich klammheimlich ins Zimmer geschlichen und Besitz von den ungelegensten Plätzen ergriffen: Sie machten sich, alle viere von sich gestreckt, auf den Zeitschriften breit, spielten mit dem Klebefilm-Abroller, rieben sich an Chloes Bein. Normalerweise hätte Chloe alles stehen und liegen lassen, sich auf den Boden gekniet und selbst eine Katze gemimt. Doch im Moment war es wichtiger, die Collage fertig zu machen.
Das Telefon läutete. Und läutete, und läutete.
»Hallo!«, rief Chloe ihren Eltern zu. »Würde bitte endlich jemand RANGEHEN ?«
Da niemand ihrer Aufforderung Folge leistete, saßen die beiden vermutlich immer noch auf der Hintertreppe,
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