Tanz im Mondlicht
Ihre Collage war ihr Gedicht, ihr Lied, das sie nur noch singen musste, sobald ihr Werk vollendet war. Der Mut verlieh ihr Flügel. Sie flog gleichsam durch die Bäume. Sie gelangte an eine weitläufige Wiese – und dort, auf der anderen Seite, stand die Scheune.
Die malerische rote Scheune mit dem Kuppeldach. Chloe musste sie erreichen, sie bot eine sichere Zuflucht. Auf der Wiese gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken, doch wenn es ihr gelang, sie zu überqueren, würde sie es bis zur Scheune schaffen. Sie konnte die Tür hinter sich absperren, und es würde ihnen niemals gelingen, sich Zutritt zu verschaffen. Onkel Dylans Haus befand sich unmittelbar hinter der nächsten Anhöhe, und sie würde bis zur Kuppel hinaufsteigen und so laut schreien, dass er sie hörte.
Die Kuppel. Als sie die Kuppel vor sich sah und hörte, wie die beiden Jungen zu ihr aufschlossen, ging ihr ein Gedanke durch den Kopf, eine alte Erinnerung. Früher hatte sie geglaubt, sie besäße Augen. Sie war davon überzeugt gewesen, dass die Kuppel eine Heimstätte für Engel, Eulen und Schutzgeister sei.
Eine Heimstatt für ihre leibliche Mutter.
Die Erinnerung ließ sie aufschluchzen. Sie beschleunigte ihren Schritt und rannte in die Wiese. Das hohe Gras kitzelte an ihren Beinen, reichte ihr bis zur Taille hinauf. Sie rannte aus Leibeskräften, ruderte mit den Armen, um noch schneller zu werden. Noch dreißig Meter, zwanzig Meter. Sie hätte gern einen Blick über die Schulter auf ihre Verfolger geworfen, wagte es aber nicht.
Sie lief blind drauflos. Chloe hatte das Gefühl, dass es jemanden gab, der sie beschützte, über sie wachte. Sie hatte diesen Sommer erkennen müssen, dass der Schein trügen und das Offensichtliche unvorstellbare Geheimnisse bergen konnte. Der Himmel war mit Leben erfüllt, voller Sternschnuppen, die durch die Dunkelheit flirrten, einen Feuerschweif hinter sich herziehend.
»Hilfe«, schrie sie, während sie lief.
Tapp, tapp, tapp: ihre eigenen Füße, die Füße ihrer Verfolger.
Sie holten auf. Sie spürte, wie jemand an der Rückseite ihres T-Shirts zerrte; sie riss sich los, versuchte noch schneller zu rennen.
»Hilfe!«, schrie sie abermals, atemlos.
Wie sollte sie in die Scheune gelangen, ohne dass sie ihrer habhaft wurden? Und was war, wenn das Tor zugesperrt war? Würde es ihr gelingen, unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte, den offenen Heuboden zu erklimmen? Sie war daran gewöhnt, die Regenrinne hinauf in ihr Zimmer zu klettern …
Endlich, geschafft. Die rote Scheune war bisher nur ein Schatten im Licht der Sterne gewesen, doch nun zeichneten sich ihre Umrisse klar ab, tauchten direkt vor ihr auf. Sie warf sich gegen das Tor, rüttelte an der alten rostigen Klinke, stöhnte, als sie feststellen musste, dass sie verschlossen war.
»Dachtest du etwa, du könntest davonlaufen?«, höhnte Zeke.
»Miststück!«, zischte sein Freund.
Chloe sah den beiden ins Gesicht, den Rücken an der Wand. Zekes Haare waren ungepflegt und lang; wie hatte sie dieses grausame Gesicht jemals schön finden können? Sein Freund grinste heimtückisch – er hatte einen kahlrasierten Schädel und eine Stacheldraht-Tätowierung rund um den Hals. Chloe schauderte, aber ihr Blick war fest, und sie schwor, sich keine Blöße zu geben und Angst zu zeigen.
»Wer uns davonläuft, muss erst noch geboren werden«, sagte Zeke, der näher gekommen war und sie an den Haaren packte. Chloe konnte seinen Bieratem riechen. Sein Freund stand neben ihm und japste.
In diesem Moment hörte sie ein Klicken, als ob der Hahn eines Gewehrs gespannt würde
.
»
Warum sollte sie davonlaufen?«, sagte Onkel Dylan, das Gewehr im Anschlag, auf Zekes Kopf gerichtet. »Sie ist hier zu Hause.«
»Scheiße«, sagte der Freund und zuckte zurück.
»Nur weiter so«, sagte Onkel Dylan zu dem Freund, immer noch auf Zeke zielend. »Ich warte nur auf eine Gelegenheit, euch beide abzuknallen. Und du lässt Chloe los, auf der Stelle«, sagte er und bohrte Zeke den Lauf des Gewehrs in den Kopf.
Zeke ließ von ihren Haaren ab, und Chloe sprang beiseite, stellte sich neben ihren Onkel.
»Na, was ist das für ein Gefühl, erniedrigt zu werden?«, fuhr Onkel Dylan fort, noch immer mit der Waffe auf Zeke zielend. »Macht das Spaß?«
»Nein«, erwiderte Zeke mit schriller Stimme.
»Das macht niemandem Spaß.« Onkel Dylans Stimme klang ganz vernünftig, strafte die Tatsache Lügen, dass er eine Winchester in der Hand hielt und jeder Muskel in seinem
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