Tanz im Mondlicht
Menschen. Aus Apfelkernen entstanden Apfelbäume. Menschen zeugten Nachkommen, setzten die Abstammungslinie fort. Manche blieben kinderlos, oder die Kinder starben und die Abstammungslinie versandete mit ihnen. War die Abstammung überhaupt von Bedeutung? Als Dylan nun am Tisch saß, war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Er hörte Schritte auf dem Weg vor dem Haus. Ohne vom Tisch aufzustehen, lauschte er, hörte, wie jemand die Veranda betrat. Seine Augen verengten sich. Wer mochte das sein? Er hatte das Licht auf der Veranda aus gutem Grund ausgeschaltet.
»Dylan?«, drang eine Stimme durch die Fliegengittertür.
Es war Sharon. Sie stand draußen, schirmte mit den Händen ihre Augen ab, um besser sehen zu können. Dylan zögerte. Er hätte sie am liebsten gebeten, wieder zu gehen, aber das brachte er nicht übers Herz.
»Komm rein«, sagte er.
Sie durchquerte die Küche. Die Sommerbräune stand ihr gut. Ihr langes Kleid war schwarz, was ihn an Jane erinnerte. Jane trug immer Schwarz. Er hob den Kopf, sah ihr in die Augen.
»Was führt dich hierher?«
»Du«, erwiderte sie mit Nachdruck.
Seine Welt drohte ins Wanken zu geraten. Er spürte ein Kribbeln im Bauch, aber er sorgte dafür, dass seine Augen hart und ungerührt blieben. Er konnte auf ihre Ratschläge verzichten. Was immer sie zu sagen hatte, er wollte es nicht hören. Deshalb richtete er seinen abschreckendsten Killerblick auf seine Schwägerin – eine Frau, die er liebte und bewunderte. Er verengte seine Augen zu Schlitzen, gab ihr die volle Breitseite.
»Gib dir keine Mühe.«
»Sag mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe, Dylan Chadwick. Du hast uns die Suppe eingebrockt. Also sieh zu, dass du sie auch auslöffelst.«
»Was für eine Suppe?« Er war sichtlich irritiert.
»Diesen Sommer. Die Arbeit am Stand, die du Chloe gegeben hast.«
»Sie kann jederzeit arbeiten, wenn sie möchte. Aber wir haben August, da verliert sich das Interesse – das ist ganz natürlich in ihrem Alter.«
»Sie hasst die Pasteten, die du verkaufst.«
Dylans Blick verhärtete sich, als wäre er der schlimmste Drogenhändler im ganzen Land. »An den Pasteten gibt es nichts auszusetzen.«
»Sie werden am Fließband hergestellt. Sie schmecken wie Pappe.«
Dylan nahm einen langen Zug aus seiner Zigarette und blickte sie durch den Rauch drohend an. Sie streckte ihre Hand aus.
»Was ist?«
»Gib mir einen Zug.«
Dylan lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er erinnerte sich, wie Sharon und er in jungen Jahren heimlich geraucht hatten, vor seiner Heirat. Eli hatte dieses Laster nie gebilligt. Deshalb war sie Dylan nach dem Abendessen hinter die Scheune gefolgt und hatte eine Zigarette geschnorrt, Rauchkringel geübt und ihn dazu gebracht, ihr Geschichten aus der Kindheit ihres Mannes zu erzählen; danach waren sie ins Haus zurückgekehrt. Jetzt reichte er ihr die Zigarette.
Sharon nahm einen tiefen Lungenzug, blies drei perfekte, konzentrische Kringel in die Luft und lächelte. »Ich habe es nicht verlernt.«
»Ja, du kannst es noch …«, sagte Dylan, und als sie mit einem Mal die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte: »Hey!«
»Es reicht.«
»Was reicht?«
»Deine Selbstzerstörung, dein Eremitendasein, dein Selbstmitleid – um nur einige wenige zu nennen! Und du willst ein Vorbild sein? Qualmst wie ein Schlot im Beisein deiner Nichte!«
»Von meiner Nichte ist im Moment weit und breit nichts zu entdecken.«
»Dann denk an Isabel.«
»Geh zum Teufel!«, entfuhr es Dylan. Schmerz und Wut tobten in seiner Brust, schäumten über. Doch dann ergriff er ihre Hand, da er seine Schwägerin liebte und es ihm fernlag, sie zu verletzen. »Es tut mir leid.«
Ihr Blick war gelassen. Sie hatte sich nicht provozieren lassen.
»Ich kann gut einstecken«, sagte sie sanft.
»Ich nicht.«
»Das weiß ich.«
Er blieb ihr die Antwort schuldig. Überall, wohin sein Blick fiel, entdeckte er Hinterlassenschaften. Isabels Bild, Chloes Bild, die Backschüsseln seiner Mutter, der Spazierstock seines Vaters, die lausigen Pasteten vom Fließband … sie erinnerten ihn im umgekehrten Sinn an Jane.
»In diesem Sommer hat sich etwas verändert«, sagte Sharon ruhig.
Dylan starrte auf den Tisch, auf die fünf Apfelkerne.
»Es hat mir nicht immer gefallen und bisweilen höllisch weh getan. Aber jetzt bin ich froh darüber.«
»Froh?«
Sharon nickte. »O ja.«
»Wie kannst du so etwas sagen? Chloe war aufgewühlt. Genauso wie nach Isabels Tod.«
»Findest du das so
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