Tanz im Mondlicht
Sharon inzwischen klar, warum er dermaßen aufgewühlt gewesen war. Nicht nur, weil eine Frau den Wunsch hatte, das Kind kennenzulernen, dem sie das Leben geschenkt hatte; ja nicht einmal, weil sie sich dazu eines Vorwands bedient hatte.
Nein, der wahre Grund war das Gefühl des Verrats. Nach all den Jahren mit Amanda, die er zu lieben versucht hatte, ohne wiedergeliebt zu werden, und die – genau wie Isabel – der Gewalt in seinem Beruf zum Opfer gefallen war, hatte Dylan endlich die wahre Liebe gefunden. Jane.
Wahre Liebe …
Über dieses Gefühl sann Sharon nun nach. Sie empfand es für Eli Chadwick – daran hatte sie niemals, auch nicht einen einzigen Augenblick, gezweifelt. Er war ihr Liebster, ihr bester Freund, ihr Gefährte. Ihr Kamerad.
Und Sharon empfand dieses Gefühl für Chloe. Biologische Faktoren spielten dabei keine Rolle; Sharon wusste, dass sie immer für Chloe da sein würde, sie bis ans Ende ihrer Tage lieben und mit Freuden ihr Leben hingeben würde, um ihr Kind vor jeder Bedrohung zu schützen. Und dieser wahren, wahrhaftigen Liebe wegen war Sharon froh, dass der Sommer noch nicht vorüber war, dass noch Zeit blieb.
Weil sie dieses Gefühl auch für ihren Schwager empfand. Er war Teil ihrer Familie, in gleichem Maß wie ihr Mann und ihre Tochter. Dylan brauchte sie, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Er war wieder in seine alte Einsiedlerrolle zurückgefallen – distanziert, einsilbig, von einem Panzer umgeben. Und deshalb stand Sharon nun auf, während ein Meteorschauer, wie so oft im August, das Firmament über der Plantage durchpflügte, und klopfte den Schmutz von der Rückseite ihres Kleides.
»Machst du mit mir einen kleinen Spaziergang?«, fragte sie Eli.
»Wohin?«
»Auf die andere Seite der Plantage.«
Eli schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ich warte immer noch darauf, dass Dylan endlich zur Vernunft kommt und dieses unnütze Land mit seinem Wildwuchs verkauft. Unsere Familie sitzt auf einer Goldmine, und er klammert sich an ein paar alte gestutzte Bäume, die man eigentlich mit einem Bulldozer dem Erdboden gleichmachen sollte. Um hübsche neue Häuser für junge Familien zu bauen …«
»Schon gut, mein Lieber.« Sharon küsste ihn auf die Stirn. »Dann wartest du eben; ich bin bald zurück.«
»Falls du meinen Herrn Bruder siehst, kannst du ja versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen.«
»Genau das habe ich vor. Falls ich ihn sehe.«
Kapitel 28
D ylan saß am Küchentisch im Lichtkreis der alten Lampe, die über ihm hing. In der einen Hand hielt er ein Messer, in der anderen einen Apfel. Es war ein rotbackiger Empire, der erste in dieser Saison. Er schnitt eine Scheibe ab und aß. Dann benutzte er die Messerspitze, um die fünf Kerne herauszuklauben.
Sie lagen auf dem Eichentisch. Dylan dachte an John Chapman, der in Lumpen durch das ganze Land gestreift war und Apfelkerne in einem Hirschlederbeutel bei sich getragen hatte. Johnny Appleseed wurde er genannt. Er schlief in den Bäumen mit Opossums. Statt Hut oder Mütze trug er ein Kochgeschirr aus Blech auf dem Kopf. Die Leute hielten ihn für verrückt, aber sie liebten ihn für sein Vermächtnis.
Dylan schob die Kerne auf dem Tisch hin und her und sann über Hinterlassenschaften nach. Die Plantage war ein Lobgesang auf seine Familie, auf den Nachlass seines Vaters. Als sie klein waren, pflegten die anderen Kinder Dylan und Eli zu hänseln – der Name Chadwick klang ähnlich wie »Chapman«. Dylan Appleseed, Eli Appleseed … Sie ertrugen den Spott. Dylan machten die Sticheleien weniger aus als Eli; während all der Jahre, die er in Großstädten wie Washington und New York verbracht hatte, hatte er nur darauf gewartet, hierher zurückzukehren, auf die Plantage, auf das Anwesen, das sein Vater hinterlassen hatte.
Durch den blauen Dunst seiner Zigarette betrachtete er Isabels Bild auf dem Kühlschrank. Sie wirkte so lebendig, als würde sie jeden Moment aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und ihn umarmen. Ihr war nur wenig Lebenszeit vergönnt gewesen, aber Dylan spürte ihre Gegenwart jede Sekunde, Tag für Tag.
Diese Apfelkerne bargen die Geheimnisse vergangener und künftiger Apfelbäume: Sie wirkten hart, dunkel, leblos. Doch wenn Dylan hinausgehen und sie heute Abend einpflanzen würde, konnten sie sich im Bruchteil von Sekunden in Bäume verwandeln und selber Äpfel tragen.
Das war rätselhaft und romantisch, die ureigene Art des Lebens, für den eigenen Erhalt zu sorgen. Apfelbäume,
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