Tanz im Mondlicht
der Hand. Ihre Finger prickelten von der Kälte. Ihre Mutter liebte sie; daran bestand kein Zweifel. Aber kein noch so großes Maß an Liebe konnte das ersetzen, was ihr fehlte. Jahre, Erinnerungen, zwei Menschenleben.
»Jane?«
»In ein paar Minuten sind die Kekse fertig. Und ich werde die Beeren auftauen …«
»Wie Teekuchen!«, sagte ihre Mutter. »Köstlich. Aber da war noch was … ich wollte irgendetwas zu Janes Heimkehr sagen. Was war es nur?«
Margaret legte den Kopf schief, hin- und hergerissen zwischen den Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Jane sah, wie sich der Kampf in den Augen ihrer Mutter widerspiegelte, wieder dort anzuknüpfen, wo sie den Faden verloren hatte.
»Es wird dir schon wieder einfallen«, sagte Sylvie beschwichtigend, nahm den Hörer ab und griff nach dem Telefonbuch.
»Wen rufst du an?«, fragte Jane.
»Den Filialleiter von SaveRite. Das ist Produktmanipulation.« Sylvie klopfte auf den weißen Papierfetzen.
»Offenbar von jemandem, der Kühe mag«, sagte Jane. »Niemand wird gezwungen, die Botschaft zu lesen. Und man kann die Hamburger trotzdem essen.«
»Das sagst du nur, weil
du
Vegetarierin bist.« Sylvie wählte die Nummer. »Und abgesehen davon wissen wir nicht, ob das Fleisch vergiftet wurde.«
»Die Sicherheit für Leib und Leben sollte Vorrang haben«, ließ sich Margaret vernehmen.
Jane versuchte zu lächeln, als sie den Blick abwandte. Es war schön und dennoch seltsam, wieder zu Hause zu sein. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie fühlte sich wie ein Eisberg, der vom Eismeer in südliche Gewässer driftete. Sie liebte diese beiden Frauen mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.
Mit Ausnahme des einen, den sie weggegeben hatte.
Kapitel 4
D as Büro des Filialleiters besaß eine Klimaanlage, und es war so kalt wie die Tiefkühlkost-Abteilung. Sein Name lautete Achilles Fontaine, ein Name, der nach Chloes Auffassung klang, als sei er der fünfte Musketier. Er hatte ein Faible für unverhoffte Überfälle, das ebenfalls dem Bild entsprach, fahle schlaffe Wangen, einen gewaltigen borstigen Schnauzbart, kurze graue Haare und die Angewohnheit, bunte, locker fallende Hemden mit sehr weiten Ärmeln zu tragen.
»Schau dir das an, Chloe«, sagte er und breitete die Zettel und Kassenbons auf seinem Schreibtisch aus.
Chloe nickte. Obwohl spiegelverkehrt, gelang es ihr auf Anhieb, ihre Handschrift zu erkennen und einige ihrer Lieblingsbotschaften zu rekapitulieren:
Diese Ente hatte Küken
; oder:
Muh-muh, esst mich nicht!
Und:
Das Gemüse befindet sich im ersten Gang; warum nicht einen köstlichen, nahrhaften Salat probieren, statt ein Stück von diesem toten Schwein zu kaufen?
»Ich bin maßlos enttäuscht von dir. Ich mochte dich sehr. Ich dachte, du wärst ein Teil unseres Teams.«
Chloe nickte kummervoll, konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den obersten Knopf seines Hemdes – das heute orange war. Oder genauer gesagt, eine grelle Pfirsichschattierung. Mr. Fontaine tat ihr leid, denn sie begriff, dass die Wahl seiner Hemden dem verzweifelten Versuch gleichkam, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, genau wie bestimmte Lehrer, die über das Ziel hinausschossen, indem sie vermeintlich coole, witzige Socken trugen.
»Aber du warst nicht Teil unseres Teams, oder?«
»Kommt darauf an, welches Team Sie meinen.«
»Das SaveRite-Team.«
»Ich glaube nicht.«
»Dein Verhalten sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir können nicht so tun, als sei das ein harmloser Streich gewesen.«
»Es war kein Streich.«
Er sah verwirrt aus, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Er streckte die Hand aus und kratzte sich am Ohr. Sie blickte ihn finster an, dachte an all die Tiere, die in Gefangenschaft gehalten und eingepfercht wurden, unfähig, sich zu kratzen, wenn es irgendwo am Körper juckte.
»Wir mussten eine Rückrufaktion starten«, sagte er und zeigte ihr die Kassenbons, auf denen bestimmte Beträge mit einem roten Kreis markiert waren. »Jedem, der eines von deinen Pamphleten erhalten hat, haben wir den Kaufpreis komplett zurückerstattet. Hast du eine Ahnung, wie viel Geld da unter dem Strich zusammenkommt?«
»Nein.«
»Einhundertneunundvierzig Dollar – bis jetzt. Wie lange musst du für diese Summe arbeiten, Chloe? Rechne mal nach.«
Sie antwortete nicht. Sie war gefeuert – sie hatte keine Lust, lange hier herumzustehen und die faulen Scherze eines Mannes über sich ergehen zu lassen, der nie begreifen würde, worum es
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