Tanz im Mondlicht
Seite aus dem Notizbuch gerissen und in kleine Zettel von der Größe einer Visitenkarte unterteilt. Während ihre Mutter fuhr, begann Chloe zu schreiben. Eine Zeile pro Zettel. Ihre Mutter machte sich nicht einmal die Mühe, zu ihr hinüberzublicken.
Vermutlich dachte sie, dass Chloe Hausaufgaben machte.
Am anderen Flussufer, in der nächstgelegenen Stadt, schickte sich Jane zum Backen an. Sie stellte Schüsseln, Kuchenform, Butter, Mehl und Eier in Griffweite. Sie hatte ihre Mutter heruntergebracht, damit sie ihr Gesellschaft leisten konnte, trotz Sylvies Verboten.
»Alles in Ordnung, Mom?«, fragte Jane, während sie Mehl abmaß.
»Oh, alles bestens, Kind.« Margaret sah sich um. Sie saß am Tisch und hielt ihre neue Puppe in der Armbeuge. »Es tut gut, in meiner eigenen Küche zu sitzen.«
»Wie geht es deinem Bein?«
Margaret zuckte die Schultern und rang sich ein tapferes Lächeln ab. »Gut. Ich hoffe, dass du mich nach oben schaffen kannst, bevor deine Schwester nach Hause kommt. Sie lässt mich nicht aus dem Bett.«
Jane lachte. »Das klingt so, als wäre sie deine Gefängniswärterin.«
»Das ist sie! Sie ist bewundernswert, und ich liebe sie, aber sie bevormundet mich, als sei ich ein sechsjähriges Kind und nicht ihre Mutter. Und dabei habe ich als Rektorin einer ganzen Schule vorgestanden. Ich bin daran gewöhnt, die Anweisungen zu erteilen!«
»Ich erinnere mich, dass dir das immer sehr gut gelungen ist.«
Ihre Mutter lachte. Jane hatte mit dieser Bemerkung keinen Hintergedanken verbunden und war froh, dass ihre Mutter sie nicht falsch aufgefasst hatte. Aber für Jane hing die Anspielung trotzdem in der Luft, stand einen Augenblick zwischen ihnen, bis sie verschwand, wie ein Blatt, das von einem Windstoß davongewirbelt wurde.
»Du hast recht, ich stand in dem Ruf, eine strenge Rektorin zu sein. Ich habe viele Veränderungen an dieser Schule miterlebt. Früher, als Sylvie und du Kinder wart, bestand unser größtes Problem mit der Disziplin darin, dass die Schüler während des Unterrichts Zettel austauschten, gegen das Sprechverbot in der Bibliothek verstießen oder in der Cafeteria einen Streit vom Zaun brachen. Als ich in den Ruhestand ging, waren überall Metalldetektoren installiert worden, damit Schusswaffen und Messer draußen blieben. Die Gestalt hat Einzug gehalten.«
»Die Gewalt«, verbesserte Jane sie sanft.
»Erzähl mir doch bitte, was du backen willst«, erwiderte ihre Mutter, die sie offenbar nicht gehört hatte.
»Kekse. Ohne Zucker, nur für dich.«
»Du verwöhnst mich! Das ist herrlich!« Ihre Mutter drückte die Puppe an sich. »Sylvie ist so streng mit mir – manchmal habe ich den Eindruck, als wollte sie sich für all die Zeiten rächen, als ich euch Süßigkeiten oder Kuchen verboten hatte …«
»Du weißt, dass dem nicht so ist.«
»Ja, ich weiß. Sie pflegt mich hingebungsvoll«, seufzte Margaret. »Und ich weiß auch, dass du deswegen nach Hause gekommen bist. Was hat sie dir erzählt?«
»Dass du gestürzt bist und starke Schmerzen hast.«
»Ich habe mir bei dem Sturz eine Platzwunde am Bein zugezogen, aber was wirklich schmerzt, sind meine Füße.« Margaret verzog das Gesicht. »Es ist der Diabetes. Sie wollen eine neue Therapie ausprobieren, mit Magneten in den Schuhen – kannst du dir das vorstellen?«
»Wirklich?«
»Das ist so eine Art Schmerzkontrolle. Von der Ärzteschaft abgesegnet und,
mirabile dictu,
von den Versicherungsgesellschaften! Sie sehen wie Einlegesohlen aus, und wenn man in die Schuhe schlüpft, ziehen sie die Schmerzen magnetisch aus dem Körper.«
»Klingt nach … Alchemie!« Jane schmunzelte. »Als befände sich tief im Labyrinth der Testlabors mit all ihrer Hochtechnologie eine Geheimkammer mit einem Zauberer …«
»Der einen hohen, spitzen blauen Hut mit silbernen Sternen trägt«, fügte ihre Mutter hinzu. »Und dort gibt es Einweckgläser mit Sternenstaub und Meersalz und uralte, dicke Wälzer mit Geheimrezepten …«
»Klingt wie eine Kochschau«, sagte Sylvie, die mit einem Arm voll Lebensmittel zur Tür hereinkam. »Wovon redet ihr?«
»Von Moms Magneten.« Jane stand auf, um ihr zu helfen. »Funktioniert das?«
»Nun …« Sylvie fing an, die Tüten auszupacken.
»Und ob!«, bestätigte Margaret mit Nachdruck. »Das heißt, sie werden funktionieren … ich habe gar keine andere Wahl, als an den Erfolg der Therapie zu glauben. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, wieder diese Schmerzmittel zu nehmen.
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