Tanz im Mondlicht
richtete sie sich bei seinem Anblick kerzengerade auf und sah ihn mit großen, strahlenden Augen an, was ihm einen Stich versetzte.
»Wieso marschierst du in der Dunkelheit am Straßenrand entlang? Willst du von einem Auto angefahren werden? Steig ein!«
Sie warf ihre Büchertaschen auf die Ladefläche zu den Bäumen, stieg ein und blickte zum Rückfenster hinaus. »Oh, neue Babybäume!«
»Ja.«
»Klasse. Die Plantage wird wieder richtig schön.«
»Findest du, Chloe?«
»Ja. Und das ist super für die Katzen – ganz zu schweigen von den Vögeln, den Rehen und Hirschen … sogar für die Kojoten und Füchse.«
»Alle wildlebenden Tiere müssen auf die Jagd gehen, um zu überleben. Ich hoffe nur, dass sie die Jungpflanzen in Ruhe lassen, bis sie eine Chance haben, anzuwachsen.«
Chloe seufzte. »Wenn nur alle deine Einstellung hätten.«
Er lachte. Neuerdings schien kaum jemand der Meinung zu sein – weder in seiner Familie noch anderswo –, seine Einstellung sei beispielhaft. »Ich glaube kaum, dass deine Eltern dir in diesem Punkt zustimmen würden.«
»Stimmt. Sie warten nur darauf, dass du die Plantage satthast. Dann könnt ihr alles verkaufen und mit Hilfe der Erschließungsfirmen reich werden. Geld«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu.
»Was ist los, Chloe Chadwick?« Er blickte zu ihr hinüber und lächelte.
Sie sah ihn einen Moment lang schweigend an, schien abzuwägen, ob sie ihm reinen Wein einschenken sollte oder nicht.
»Du wirst es meinen Eltern erzählen.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Lass es auf einen Versuch ankommen.«
»Ich bin gefeuert worden.«
»Aha. Was ist passiert?«
»Ich bin meinen Prinzipien treu geblieben – ich schwöre, das war alles, Onkel Dylan. Ich habe lediglich von meinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht. Und kleine Zettel auf ein paar abgepackten Fleischportionen im SaveRite hinterlassen. Mit der Aufforderung an die Kunden, zur Abwechslung mal Salat zu probieren, wenn du es genau wissen willst. Den Tieren eine Chance zu geben. Mr. Fontaine hat es – in den falschen Hals bekommen.«
»Wer ist der Mann? Der Filialleiter?«
Chloe nickte bekümmert.
»Chloe, du bist doch ein kluges Mädchen. Das klügste, das ich kenne. Du kannst doch nicht allen Ernstes geglaubt haben, dass ihm solche Aktionen gefallen.«
»Nein, ich hätte es mir denken können. Weil er ein Armleuchter ist, ein Kriecher. Er trägt bescheuerte Hemden, so grelle Seidendinger mit weiten Ärmeln – als wäre er von gestern, aus den sechziger Jahren! Er hat einen albernen, stacheligen Schnauzbart und ist der rückständigste Mensch auf der ganzen Welt.«
Dylan verkniff sich ein Lächeln. »Weil er Fleisch isst oder weil er hässliche Hemden trägt?«
»Weil er so engstirnig ist und mich mir nichts, dir nichts rausgeschmissen hat …«
»Du kannst nicht erwarten, dass er weiterhin für dein Wohl sorgt, wenn du die Hand beißt, die dich füttert.«
»Er hasst mich«, sagte Chloe. »Du hättest sehen sollen, wie er mich heute angestarrt hat, nur weil ich ein paar Botschaften verfasst habe und er einigen Kunden ihr Geld zurückerstatten musste. Dabei hätte ich allen Grund,
ihn
zu hassen!«
Dylan hörte seiner Nichte zu, die Dampf abgelassen hatte und nun in ein tiefes, brütendes Schweigen verfiel. Eine kühle Brise strich durch die Fahrerkabine, und er spürte, dass sie ihn ansah, darauf wartete, dass er sich äußerte. Er fühlte sich ihr besonders eng verbunden und war stets zutiefst berührt – und ein wenig überrascht –, wenn sie einen Rat von ihm zu erhoffen schien. Er dachte an Isabel, die im gleichen Alter wie Chloe gewesen war. Was würde er ihr sagen, wenn sie neben ihm säße?
»Hass … ›Eine sternenlose Nacht‹«, erwiderte er leise.
»Wie bitte, Onkel Dylan?«, fragte Chloe, als habe sie nicht richtig gehört.
Dylan fuhr stumm weiter. In seiner Hemdtasche steckte ein Päckchen Zigaretten, und es juckte ihn in den Fingern, eine herauszuholen und anzuzünden.
»Onkel Dylan?«
Er konnte seiner geliebten Nichte nicht sagen, dass sein Leben während des ganzen letzten Jahres darin bestanden hatte, sich mit dem Thema Hass und der Frage zu beschäftigen, wie man sich davon befreit. Ein großer Hirsch trat auf die Straße hinaus, überquerte die Fahrbahn. Dylan trat voll auf die Bremse, und die jungen Bäume schlitterten auf der Ladefläche nach vorn. Chloes Augen waren auf die Straße vor ihnen fixiert. Sie war hier aufgewachsen; Dylan
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