Tanz im Mondlicht
könnte sie geradewegs in das Zimmer ihrer Mutter blicken.
»Nichts. Virginia hat letztes Jahr einen Schlaganfall erlitten, und seither geht es ihr nicht gut. Ihr Sohn fährt sie manchmal zum Potluck Dinner, du weißt schon, dieses Abendessen für die Mitglieder des Lehrkörpers, bei denen jeder etwas mitbringt. Mom sagt, es stimme sie traurig, sich mit einer Frau zu unterhalten, die früher so brillant war und jetzt nur noch Unsinn redet. Das Gleiche empfinde ich in Moms Gegenwart.«
»Ich weiß.« Jane hatte das Gefühl, als stünde sie unter Strom. Sah ihre Schwester nicht, was los war? Sobald die Sprache auf ihre Tochter kam oder auf ein Thema, das in Zusammenhang damit stand, war sie wie elektrisiert. Sie spürte, wie sie innerlich zitterte.
Sylvie holte tief Luft und streckte ihr die Hand entgegen. »Waffenstillstand?«, fragte sie.
»Angenommen.«
»Du hast recht, was den Stress in diesem Haus betrifft. Es fällt mir schwer, tatenlos zusehen zu müssen, wie es mit Mom bergab geht. Seit Weihnachten hat sich ihr Zustand merklich verschlechtert. Seit dem Schub im letzten Herbst sind die Gedächtnisstörungen schlimmer geworden. Aber ich will nicht, dass sie in einem Heim landet, Jane. Ich möchte sie hierbehalten.«
»Selbst wenn die Pflege zu viel für eine Person ist?«
»Du bist doch da«, entgegnete Sylvie lächelnd.
Jane nickte. »Im Moment noch.«
»Was für ein Gefühl ist es, wieder zu Hause zu sein?«, fragte Sylvie. Und als Jane nicht sofort antwortete, fügte sie hinzu: »Obwohl du es vermutlich nicht mehr als dein Zuhause betrachtest.«
Jane blickte abermals zur Decke empor. »Mein Zuhause ist dort, wo ihr beide seid, Mom und du«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
Und Chloe.
Sylvie sah überrascht aus. Sie zog verwundert die Augenbrauen hoch, ihre Miene war vielsagend.
»Was ist?«, fragte Jane.
»Ich dachte, du könntest nicht weit genug von uns wegkommen.«
Jane nickte, weil sie wusste, dass auch das der Wahrheit entsprach.
Als sie morgens ins Freie trat, auf dem Weg zur Schule, fand Chloe einen Briefumschlag, der in die Haustür geklemmt war. Er trug ihren Namen, in Onkel Dylans Handschrift. Sie zog ihn hervor, um ihn im Bus zu lesen. Doch sobald sie eingestiegen war, begann Teddy Lincoln »Muh, muh« zu rufen und Jenny berichtete laut, dass Mr. Fontaine nach Chloes Rausschmiss der gesamten Belegschaft eine Gardinenpredigt gehalten hatte; er hatte ihnen eröffnet, dass er umgehend die Polizei einschalten würde, wenn noch jemand auf die Idee käme, sich eine solche Frechheit zu leisten. Chloe hatte ihre Kopfhörer aufgesetzt und sich auf die Musik von Mercury Rev konzentriert.
Der Tag in der Schule war auch kein Zuckerschlecken gewesen. Gil Albert, für den sie insgeheim schwärmte, schien seit dem Wochenende so unzertrennlich mit Lena Allard geworden zu sein, dass sie siamesischen Zwillingen glichen. Ihre beste Freundin Mona Shippen war krank und fehlte. Ihre Mitschüler hänselten sie wegen ihrer Tierschutz-Aktion bei SaveRite. Im Biologieunterricht sahen sie sich einen Film über die Affen im Regenwald am Amazonas an, und sie kämpfte mit den Tränen, als Wilderer die Affen in den Bäumen fingen und sie in Bambuskäfige steckten.
»Affenfan«, rief Teddy, als er ihre Tränen bemerkte.
»Herzloses Ekel.« Sie wischte sich übers Gesicht.
Im Kunstunterricht bastelte sie eine Klappkarte für Mona, zur Genesung. Sie zeichnete ein Bild von einem undurchdringlichen Dschungel, mit zahlreichen gelben Augen, die durch das dichte grüne Blattwerk spähten. Auf die Innenseite malte sie einen Affen, der sich von Ast zu Ast schwang. Darunter schrieb sie:
»Die Schule ist ein Dschungel, in dem man viel erleben kann. Komm bald wieder, um mit mir an den Ästen zu schaukeln.«
Nach Schulschluss stieg sie zwei Haltestellen früher aus, um Mona die Grußkarte persönlich zu überbringen. Mona öffnete die Tür, in einem Schlafanzug aus pinkfarbenem Flanell und einem wallenden purpurfarbenen Kimono mit einem faszinierenden Tomatensuppe-Flecken auf dem Revers. Sie trug eine Brille mit Drahtgestell und hatte schulterlange, leicht fettig wirkende braune Haare. Was interessant war, denn ihre Haare hatten ihr bis zu den Ellbogen gereicht, bevor sie krank geworden war.
»Was hast du mit deinem Haar angestellt?«, staunte Chloe.
»Abgeschnitten. Aus Langeweile. Es ist besser, wenn du nicht hereinkommst. Du könntest dich anstecken.«
»Was hast du denn?«
»Die Legionärskrankheit.
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