Tanz im Mondlicht
überhaupt vorstellen, wie schwierig es war, ein Kind allein großzuziehen?
Ihre Mutter hatte große Hoffnungen in sie gesetzt: Sie war damals Studentin im zweiten Jahr an der Brown University gewesen, gehörte zu den Jahrgangsbesten. Sie war Mitglied der Tennismannschaft, die Nummer zwei im Einzel. Sie hatte Englisch als Hauptfach gewählt. Ihre Mutter war der Ansicht gewesen, sie besäße die intellektuelle Disziplin, um später einmal Dozentin an einer Universität zu werden, obwohl Jane lieber in ihre Fußstapfen getreten und Lehrerin an einer Highschool geworden wäre.
Jane hatte seit damals nie wieder einen Tennisschläger in die Hand genommen. Sie hatte nie unterrichtet, weder in der Highschool noch an einem College. Ihr graute vor all den jungen Gesichtern: Was wäre gewesen, wenn eines ihrer Tochter gehörte, ohne dass Jane es auch nur ahnte?
Backen war eine bequeme Lösung gewesen. Diese Tätigkeit konnte man allein im stillen Kämmerlein verrichten. Sie erforderte nichts weiter als ein gutes Augenmaß, Achtsamkeit und Konzentration. Sie bot ihr die Möglichkeit, sich abzuschotten. Und ihre Konditorei war weit entfernt von ihrem Elternhaus, so dass sie nicht in Versuchung geriet, jedes Gesicht in der Menge zu mustern, sich Fragen zu stellen, immer wieder die gleichen Fragen … Sie hatte fortwährend Angst gehabt, ihrer Tochter über den Weg zu laufen und es nicht einmal zu wissen.
Jane hatte die Adoptionspapiere unterzeichnet und sich verpflichtet, auf alle elterlichen Rechte zu verzichten. Sie durfte keinen Kontakt zu ihrer Tochter haben, aber sie hatte ihren Namen bei der Rhode-Island-Adoptionsregistratur und auf einer überregionalen Website eintragen lassen, die als Kontaktbörse diente und angenommenen Kindern half, ihre leiblichen Eltern aufzuspüren, für den Fall, dass ihre Tochter irgendwann Wert darauf legte, sie zu finden. Fünfzehneinhalb Jahre waren inzwischen vergangen.
Ehrlich gestanden, sie wusste genau, wo ihre Tochter lebte. Janes Mutter hatte für sie die perfekte Adoptivfamilie, das perfekte Zuhause gefunden. Der Sohn einer Kollegin, dessen Frau keine Kinder bekommen konnte. Die Adoption war für alle Beteiligten von Vorteil. Für das Kind, das eine richtige Familie, ein richtiges Zuhause erhielt; und für Jane, die ihre Freiheit wahren und die Chance nutzen konnte, ihr eigenes Leben zu leben.
Janes Identität würde anonym bleiben – strikt und hundertprozentig geheim – für jedermann. Nur Margaret und ihre Kollegin, die Initiatoren der Adoption, wussten Bescheid.
»Du willst aber nicht etwa mit ihr reden, oder? Weil sie erst fünfzehn ist. Das wäre unfair, sowohl ihr gegenüber als auch im Hinblick auf ihre Familie. Die gesetzlichen Bestimmungen in Rhode Island sind in diesem Punkt deutlich …«
»Was für gesetzliche Bestimmungen?«
»Vom Familiengericht. Von der Adoptionsregistratur … du
weißt
, was ich meine.«
Jane wusste es in der Tat. Sie kannte die Bestimmungen und Verfahren buchstäblich auswendig.
»Sie muss volljährig sein, Jane«, fügte Sylvie hinzu. »Bevor sie Auskunft bekommt und dich suchen kann. Du musst ihr die Entscheidung überlassen; du hast kein Recht, dich in ihr Leben einzumischen. Sie ist noch nicht einmal sechzehn.«
Jane blickte sich in der Küche um. Jede Handbreit war ihr vertraut. Sie war nach ihrer eigenen Geburt in dieses Haus gekommen. Und später, nach der Entbindung im Spital von St. Joseph’s, war sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt.
»Erinnerst du dich, wie wir nach Dad Ausschau gehalten haben?«
»Jane, hör auf.«
»Weißt du noch, wie es war, als er uns verließ? Wie wir beide uns bemüht hatten, ihn aufzuspüren? Wie wir seine Firma angerufen und getan haben, als wären wir Kunden? Und wie wir per Anhalter nach Hartford gefahren sind, um ihn bei seinen Vertreterbesuchen abzufangen?«
»Hör auf damit! Was soll das? Das lässt sich nicht miteinander vergleichen. Wir haben mit Daddy unter einem Dach gelebt. Deine Tochter kennt dich nicht einmal. Sie hat bereits eine Familie, hat es gut getroffen. Ihr Vater ist ein erfolgreicher Versicherungsvertreter. Ihre Mutter gehört dem Gartenverein von Crofton an.«
»Du kennst sie?«, fragte Jane.
»Mom hat sie stets im Auge behalten. Mit Hilfe von Virginia.«
Virginia Chadwick, die Freundin und Kollegin ihrer Mutter, die Naturwissenschaften unterrichtet und den Stein ins Rollen gebracht hatte.
»Was hat sie sonst noch herausgefunden?« Jane sah zur Decke empor, als
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