Tanz im Mondlicht
nieder.
»Ernsthaft, Jane, wie ist dein Leben verlaufen?«
»Gut, Mr. Romney. Ich habe ein eigenes Geschäft in New York City. Ich bin Konditorin.«
»Eine … Konditorin? Das überrascht mich. Bei deiner Liebe zu Worten.«
»Ich backe Torten für viele Autoren, Schauspieler, Regisseure …«
»Du umgibst dich also mit literarisch interessierten Menschen.«
»Ja.«
Just in diesem Moment kam Sylvie herein, die Torte in der Hand balancierend. Kaum hatte sie den Raum betreten, als auch schon ein stattlicher Mann – mit schütterem Haar und Lederflecken an den Ellbogen seines Tweedjacketts – zur Tür sprintete, um ihr behilflich zu sein. Gemeinsam trugen sie die Torte zum Tisch, nur wenige Schritte von Jane und Mr. Romney entfernt.
»Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass Sie hier sein würden.« Jane folgte lächelnd dem Blick ihres Lehrers, der die originalgetreue Zuckerbäcker-Kopie von
Webster’s Second
in Augenschein nahm. Sie wirkte dermaßen realistisch, bis hin zum zerfledderten Einband und den verblassten goldenen Buchstaben, dass sich jemand bemüßigt fühlen konnte, einen Begriff in dem Wörterbuch nachzuschlagen. Mr. Romney strahlte.
»Wenn dem so ist, hättest du mich nicht glücklicher machen können. Worte sind noch immer deine große Leidenschaft, Jane Porter. Ich denke immer, ich werde eines Tages meinen
New Yorker
aufschlagen und ein Gedicht oder einen Artikel von dir darin finden.«
»Ich schreibe nicht mehr.«
Mr. Romney musterte sie betrübt, als sähe er das Phantom ihres früheren Talentes vor sich. Doch dann schüttelte er den Kopf und lächelte. »Das nehme ich dir nicht ab. So leicht kannst du den Traum eines alten Lehrers nicht zerstören. Ich werde auch in Zukunft jede Woche meinen
New Yorker
aufschlagen und hoffen, eines Tages etwas von dir darin zu entdecken.«
Jane öffnete den Mund, um ihm scherzhaft zu entgegnen, dass er darauf wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten müsse, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie stand der Tür gegenüber, und in dem Augenblick sah sie, wie Mrs. Virginia Chadwick in der Cafeteria erschien, von einem jüngeren Mann im Rollstuhl geschoben. Mrs. Chadwick wurde ein ähnlicher Empfang zuteil wie Janes Mutter – die Lehrer freuten sich ungemein über ihr Kommen.
»Noch eine beliebte Lehrerin«, sagte Mr. Romney. »Genau wie deine Mutter. Zerbrechlich und überaus beliebt.«
Jane hörte kaum zu, sie blickte gebannt zur Tür.
Der Mann hatte einen Bart und leuchtend grüne Augen; er war schätzungsweise zehn Jahre älter als Jane. Er trug Jeans und einen schwarzen Wollpullover, und alles an ihm deutete darauf hin, dass er um keinen Preis auffallen wollte, sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. Er hielt sich im Hintergrund, ließ Mrs. Chadwick – allem Anschein nach seine Mutter – von ihren Lehrerkollegen zum Tisch hinüberfahren.
Er war der Mann, den Jane in der Obstplantage gesehen hatte.
»Jane.« Strahlend ergriff Sylvie die Hand ihrer Schwester. »Ich möchte dir meinen Freund John Dufour vorstellen …«
»Hallo, John«, sagte Jane. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Sylvie sagte: »Hallo, Alan«, und Jane entfernte sich unbemerkt, als sich Sylvie, John und Mr. Romney in ein Gespräch vertieften. Sie stand in der Ecke, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mrs. Chadwick schien die Anwesenden im Raum zu mustern. Sie war Jane nie begegnet. Sie hatte nicht zum Lehrkörper der Schule gehört, an der Margaret Rektorin gewesen war. Ihre Blicke trafen sich; da Mrs. Chadwick sie nicht kannte, wanderten ihre Augen weiter. Vielleicht hielt sie nach ihrem Sohn Ausschau: Er war verschwunden.
Jane empfand Mitleid mit dem Zustand der Frau, deren linke Gesichtshälfte erschlafft war, genau wie der linke Arm, der kraftlos in ihrem Schoß lag. Ihre eigene Haut brannte wie Feuer – ihre Mutter befand sich auf der einen Seite des Raumes und Mrs. Chadwick auf der anderen –, zwei dahinsiechende Frauen, die einen prägenden Einfluss auf ihr Leben gehabt hatten.
Sie ging nach draußen, an die frische Luft.
Der hochgewachsene bärtige Mann stand unter einer gelben Lampe und rauchte. Ihr Herz begann zu rasen. Sie sah ihn wieder vor sich, auf der Plantage. Er konnte nicht wissen, wer sie war – er war mindestens vierzig und gute zehn Jahre vor ihr zur Schule gegangen; seine Mutter hatte sie nicht in Begleitung ihrer Mutter gesehen, hatte nicht zwei und zwei zusammenzählen und ihre Identität erraten
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