Tanz im Mondlicht
mehr von ihr erzählen. Aber davon konnte natürlich keine Rede sein.
»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie.
»Ganz meinerseits.«
Sie reichte ihm ein zweites Mal die Hand. Sie war rauh und schwielig, die Hand eines Mannes, der harte Arbeit auf einer Apfelplantage verrichtete. Er hielt ihre Hand eine halbe Sekunde länger als nötig. Wieder spürte sie, während sie in seine grünen Augen blickte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, der nichts mit Chloe zu tun hatte.
»Sehen wir uns drinnen?«, fragte er, und sie nickte.
Sie sah ihm nach, wie er in die Schule zurückging, wagte aber nicht, ihm zu folgen. Sie konnte das Risiko nicht eingehen, dass Virginia oder Dylan sie mit ihrer Mutter und Sylvie sahen. Es war besser, im Auto zu warten.
Hier schloss niemand die Türen ab. Sie stieg ein, nahm hinten Platz. Dieser Teil des Parkplatzes war unbeleuchtet. Sie rollte sich auf der Rückbank zusammen, deckte sich mit ihrer Lederjacke zu. Sie war fein genarbt und butterweich, das teure Geschenk eines Kunden, der Independent-Filme produzierte; sie hatte letztes Jahr eine Torte für ihn kreiert, der dem Titel des Filmes Rechnung trug.
Die Frühlingsluft war eisig, wie Dylan gesagt hatte, doch sie merkte es kaum. Sie hatte jahrelang das Gefühl gehabt, als gäbe es ein schwarzes Loch in ihrem Leben. Sie ertrug es nicht, diese Leere beim Namen zu nennen, weil sich nichts dagegen tun ließ. Sie hatte auf ihr Kind verzichtet; ihr war keine andere Wahl geblieben. Die Entscheidung war logisch, absolut einleuchtend gewesen.
Das war lange her, mehr als fünfzehn Jahre, so dass sie diese Lebensphase bisweilen aus der gleichen Distanz betrachtete wie eine Geschichte, die sie gelesen hatte. Doch jetzt kehrten die Erinnerungen zurück, überfluteten sie mit aller Macht. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie ihrer Mutter gestanden hatte, was mit ihr los war: Ihre Hände waren schweißnass gewesen, und die morgendliche Übelkeit machte sie benommen.
Und sie erinnerte sich an die Tränen und die Panik ihrer Mutter. Sie hatte geweint, weil Jane gezwungen war, sich ein ganzes Jahr vom College beurlauben zu lassen. Sie kamen überein, dass sie zu Hause bleiben durfte, bis ihr Zustand sichtbar wurde, dann musste sie weg. Margaret hatte sich mit den Barmherzigen Schwestern von Salve Regina in Verbindung gesetzt, die dafür sorgten, dass Jane in einem Heim für ledige Mütter, dem St. Joseph Retreat House in Bristol, Unterschlupf fand.
Jane erinnerte sich an ihre Bemühungen, ihren Bauch zu verstecken, damit sie nicht fortmusste. Sie trug nur noch weite, ausgebeulte Jeans und T-Shirts in Übergröße. Als der Herbst kam, war sie erleichtert: Sie konnte riesige Sweatshirts anziehen. Eines Tages hatte sie in der Badewanne gesessen, an ihrem Körper herabgesehen und entdeckt, dass sich der Bauchnabel vorwölbte. Es war ein Schock. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Kontrolle über ihr Leben entglitt. Sie hatte sich in der Badewanne zusammengekauert und geschluchzt.
Als ihre Mutter hereingekommen war und sie völlig aufgelöst vorgefunden hatte, hatte sie den Arm um Janes nackte Schultern gelegt und war ebenfalls in Tränen ausgebrochen. Jane hatte sich geschämt, aber sie hatte den mütterlichen Trost gebraucht. Sie hatte gehört, wie Margaret Schwester Celeste Marie anrief. Sylvie studierte zu dieser Zeit bereits; Jane war froh, dass sie auf dem Campus wohnte und das alles nicht hautnah miterleben musste. Ein Wagen holte sie ab, und Jane verließ ihr Elternhaus. Rhode Island ist der kleinste Staat in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber Jane kam es vor, als hätte man sie nach Sibirien verfrachtet.
Im Heim gab es etliche ledige Mütter. Sie waren alle blutjung, kamen aus verschiedenen Teilen des Landes. Es ging zu wie im College, nur dass die Niederkunft das Einzige war, was auf dem Stundenplan stand. Nach der Entbindung verschwanden die Mütter. Jane war schweigsam, in sich gekehrt. Um den Aufenthalt zu finanzieren, arbeitete sie in der Küche, stellte kunstvolle Torten her. Das Baby, das in ihr wuchs, war ihr engster Gefährte, und sie fühlte sich ihm von Tag zu Tag mehr verbunden.
Das Verhalten ihres Vaters hatte bewirkt, dass sie Trennungen realistisch betrachtete. Sie hatte vermieden, sich mit den anderen Müttern anzufreunden – sie wusste, dass sich ihre Wege trennen würden, auf Nimmerwiedersehen, denn sie wollte die Erinnerung an die Monate im St. Joseph’s auslöschen. Aber sie konnte nicht
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