Tanz im Mondlicht
schüttelte den Kopf. Sie hatte Horrorgeschichten von Freunden gehört, die einen Reinfall mit dem Pflegepersonal erlebt hatten. Das Silber wurde gestohlen, die Telefonkosten stiegen mit einem Mal in astronomische Höhen und kleine Boshaftigkeiten waren an der Tagesordnung, wie Zwicken und Schubsen. »Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte sie.
»Weil ich nicht so werden möchte wie meine Freunde, die über den Kopf ihrer Eltern hinweg entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Weil ich dazu kein Recht habe.«
»Mir wäre es fast lieber, ihr schiebt mich einfach ab, ohne mich vorher zu fragen. Ihr könnt nicht erwarten, dass ich meinen eigenen Abgang in die Wege leite.«
»Abgang? Mom!« Jane lächelte.
»Du brauchst nur Dickens zu lesen!« Margaret griff nach
Oliver Twist
und schwenkte das Buch. »Er wusste, wie es in solchen Einrichtungen zugeht! Du hast noch eine Rechnung offen und denkst wahrscheinlich: Wie du mir, so ich dir, stimmt’s?«
»Du hast mich nie gefragt«, entgegnete Jane ruhig. »Du hast mir vorgeschrieben, wohin ich zu gehen und was ich zu tun hatte. All die Monate im St. Joseph’s …«
»Es war zu deinem eigenen Besten!«, stöhnte Margaret. »Du warst hoch begabt … hattest die ganze Zukunft noch vor dir … Ich verachtete deinen Vater für das, was er euch hinterlassen hat! Er hat den Gedanken in euch geweckt, so wertlos zu sein, dass man euch benutzen und fallen lassen konnte! Ach, Kind, ich hatte Angst, dass du alles zunichte machst, dein Studium abbrichst …«
»Und Konditorin wirst?«, flüsterte Jane. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Jane klopfte gegen ihre Tasche, zog ein kleines silbernes Handy heraus, überprüfte die blaue Anzeige und verließ den Raum.
Margaret schauderte, unterdrückte ein Schluchzen. Sie legte
Oliver Twist
beiseite und griff wieder nach
Family Happiness
. Sie dachte an die Protagonistinnen, die Solo-Millers, Wendy und Polly. Sie klammerte sich an die beiden – Mutter und Tochter mit ihrer unverbrüchlichen Beziehung. Sie waren wie Freundinnen für sie, leisteten ihr in ebendiesem Moment Gesellschaft. Und sie wünschte sich, mehr als alle Worte in ihrer geliebten englischen Sprache jemals auszudrücken vermochten, sie hätte eine solche Beziehung zu Jane.
»Hallo?«, sagte Jane, als sie im Korridor vor dem Zimmer ihrer Mutter stand. Sie hielt das Handy ans Ohr, und ihr Herz klopfte wie verrückt nach dem Gespräch, das sie gerade mit ihrer Mutter geführt hatte.
»Jane?«
Jane zögerte, versuchte die Stimme einzuordnen.
»Dylan Chadwick am Apparat.«
»Oh, hallo!«
»Ich habe Ihre Telefonnummer von der Visitenkarte, die Sie meiner Nichte gegeben haben. Ich rufe an, um mich bei Ihnen zu bedanken.«
»Das war doch nicht nötig.«
»Die Apfelpasteten waren köstlich. Und es war sehr aufmerksam von Ihnen, sie vorbeizubringen. Nur weil ich erwähnte, dass wir sie gerne essen.«
»Nun, ich habe in letzter Zeit nicht viel gebacken«, sagte Jane aus dem Bedürfnis heraus, ihr Verhalten zu erklären, in der Hoffnung, dass er es nicht merkwürdig gefunden hatte. »Ich war auf dem besten Weg, einzurosten.«
»Befinden Sie sich noch in Rhode Island? Oder sind Sie nach New York zurückgekehrt?«
»Ich bin noch hier.«
»Also, der Stand ist so gut wie fertig«, sagte er. »Sie haben vermutlich gesehen, dass sich meiner Nichte und ihrer Freundin damit eine gute Gelegenheit bietet, während der Sommermonate tüchtig zu arbeiten.«
»Ist mir schon aufgefallen.« Jane lächelte.
»Wir haben allerdings ein kleines Problem: Die Äpfel werden nicht vor September geerntet. Die Erdbeeren, die ich angepflanzt habe, sind erst im Juni reif, und Tomaten und Mais im Juli; im Moment habe ich also einen frisch gestrichenen Stand und nichts zu verkaufen.«
Jane konnte es nicht fassen; offenbar wollte Chloes Onkel ihr einen geschäftlichen Vorschlag unterbreiten.
»Sie möchten, dass ich für Sie backe …«
»Apfelkuchen und Pasteten. Chloe war hingerissen von dem Gebäck, das Sie vorbeigebracht haben. Vor allem von der Dekoration, die Sie aus Teig gestaltet haben. Sie wusste natürlich nicht, wer Sie sind.«
Janes Herz drohte auszusetzen. »Was heißt das?«
»Die Calamity Bakery.«
»Oh«, rief sie erleichtert. »Sie kennen mich aus New York …«
»Ich habe früher dort gelebt. Meine Frau war Designerin, sie gab und besuchte viele Partys. Ich habe mich immer gefreut, wenn Sie die Nachspeisen geliefert haben. Nicht nur weil sie
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