Tanz im Mondlicht
gehört eigentlich die Vorwahl 917?«, fragte Mona. »Ist sie vielleicht aus dem geheimnisumwobenen Alaska gekommen?«
»New York City«, klärte Chloe sie auf, fühlte sich aus einem unerfindlichen Grund stolz.
»917 ist die Vorwahl eines Handys in New York City«, fügte Onkel Dylan hinzu. »Oder eines Piepers.«
»Aha«, sagte Mona. »Eine Konditorin auf Achse. Also, was ist jetzt, soll ich anstreichen oder nicht?«
»Hier ist der Pinsel.« Chloe ergriff die von ihr ausgewählte Pastete, die mit der Vogelnest-Verzierung. Den Rest bot sie Mona und Onkel Dylan an. Er entschied sich für das Gebäck mit dem blühenden Baum, und Mona ignorierte die Frage, tauchte ihren Pinsel in die Farbe. Chloe biss hinein und schloss die Augen. Die Kruste zerging auf der Zunge, und die Äpfel schmeckten so frisch, als wären sie gerade erst vom Baum gepflückt worden.
»Hui, ist das gut«, hörte sie Onkel Dylan sagen.
»Ja. Sehr gut«, pflichtete Chloe ihm bei, noch immer mit geschlossenen Augen. Sie fragte sich, was Jane nach Rhode Island geführt haben mochte. Und wann sie nach New York zurückkehren würde.
Hoffentlich nicht zu bald.
Jane fuhr bis zum anderen Ende der Apfelplantage, wo die Landstraße auf die Hauptstraße traf. Eigentlich hätte sie links abbiegen und nach Hause fahren müssen, aber sie war zu aufgewühlt. Sie blickte die weißen Linien auf dem schwarzen Teer an. Ihre Hände zitterten.
Sie war gerade ihrer Tochter begegnet.
Chloe hatte ihre Augen, die gleichen graublauen Augen wie Jane. Sie hatte ebenfalls rabenschwarze Haare, die ihr über die ausgeprägten Wangenknochen fielen. Jane sah in den Rückspiegel: Ihre Tochter war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Sie hob die linke Hand vom Lenkrad, roch die blaue Farbe an ihren Fingern. Es war nur ein winziger Fleck; sie hatte die noch feuchte Oberfläche des Standes gestreift, als sie zum Wagen gegangen war.
Ihre Hände waren klein, wie die ihrer Mutter und ihrer Schwester. Als junges Mädchen hatte sie sich schöne Hände mit langen Fingern und langen Nägeln gewünscht. Elegante Hände, wie geschaffen, um Klavier zu spielen, Ringe zu tragen, ausdrucksvoll zu gestikulieren. Sie wusste, dass Sylvie den gleichen Wunsch gehabt hatte. Noch vor Erscheinen der ersten Nagelstudios hatten sich die Schwestern falsche Nägel aus Pappe angeklebt, um zu sehen, wie sie damit aussahen.
Doch jetzt mochte Jane ihre Hände. Chloe hatte sie von ihr geerbt. Jane hatte die schmalen Gelenke, die schmalen Hände, die kurzen Fingernägel gesehen. Typische Porter-Hände, die gleichen wie ihre Mutter, Tante und Großmutter.
Jane saß im Wagen, unschlüssig, was sie tun sollte. Sie wusste, dass sie heimfahren musste, um Sylvie abzulösen, die mit John Dufour zum Abendessen gehen wollte. Aber sie konnte sich nicht aufraffen, die Plantage zu verlassen.
Durch die geöffneten Wagenfenster drang der Duft von Blumen und neuen Blättern herein. Es war der Geruch der Farbe Grün, des Chlorophylls, das in ihrer Kehle brannte. Vögel zwitscherten in den Bäumen; sie beobachtete, wie sie von Ast zu Ast flogen, verschwommene Flecken in Blau und Braun.
Fragen gingen ihr durch den Kopf, nachhaltige, unmögliche Fragen, wie ihr schien. Was erhoffte sie sich? Warum war sie heute hierhergekommen? Warum war sie überhaupt nach Rhode Island gefahren, auf unbestimmte Zeit, ohne konkrete Pläne, nach New York zurückzukehren, mit einer Mitteilung für ihre Kunden an der Tür ihrer Konditorei und einer Ansage auf ihrem Handy?
Sie fand keine Antwort, sie wusste nur, dass ihr Herz schwer war und schmerzte, als wäre eine alte Verletzung wieder aufgebrochen, die sie daran erinnerte, dass die Wunde nie ganz verheilen würde.
Jane hatte, nach beinahe fünfzehnjähriger Abwesenheit, mit einem Mal gespürt, dass es an der Zeit war, heimzukehren. Doch im Moment sah sie sich außerstande, den Gang einzulegen, Gas zu geben, den Blinker zu setzen und auf die Hauptstraße zu fahren, um rechtzeitig zu Hause zu sein, damit Sylvie ausgehen konnte. Jane saß da, wie zur Salzsäule erstarrt, unfähig, die Plantage zu verlassen.
Und von allen Fragen, die sie sich stellte, und allen Dingen, die ihr Kopfzerbrechen bereiteten, machte nur ein Gedanke Sinn.
Chloe war hier.
Kapitel 9
A m Samstagabend lag Margaret im Bett, umgeben von Büchern. Sie waren ihre Freunde und Gefährten. Sie kannte jedes einzelne, waren sich vertraut: Dickens, Austen, Christie, Wodehouse, Colwin, Updike, McMurtry, Godden. Die
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