Tanz im Mondlicht
Einbände wirkten beruhigend auf sie: Einige waren alt und zerfleddert, andere waren wie neu und wenig geöffnet worden. Sie las gerne die Schutzumschläge der zeitgenössischen Werke: redaktionell aufbereitete Buchbeschreibungen und Zitate von anderen Autoren; das Foto des Autors interessierte sie besonders.
Aus diesen vielsagenden Fotografien hatte sie schließen können, dass John Cheever Hunde liebte, Laurie Colwin früher gestreifte Hemdblusen getragen, den Kopf geneigt und im grellen Sonnenlicht die Augen zusammengekniffen hatte. Das waren Menschen, die Margaret gerne kennengelernt hätte.
Seufzend ließ sie das Buch
Family Happiness
auf die Knie sinken. Colwins Protagonisten stammten aus Familien, denen es gelang, die Schwachpunkte ihrer Angehörigen mit liebevoller Nachsicht zu ertragen.
»Jane!«, rief Margaret. »Jane!«
Keine Antwort. Doch Margaret konnte sie auf dem Dachboden hören, sie schien in irgendwelchen Kartons zu kramen. Nachdem sie gerade in
Family Happiness
einen wunderbaren Dialog zwischen Wendy und ihrer Tochter Polly gelesen hatte, fühlte sie sich bestrebt, grundlegend die gleiche Nähe zu Jane herzustellen, wenn auch in abgewandelter Form.
»Jane!«, rief sie, dieses Mal lauter.
Gleich darauf kam ihre älteste Tochter herein, über und über mit Staub bedeckt. Sie trug schwarze Jeans, ein purpurfarbenes T-Shirt mit einem Napfkuchen in der Mitte und die Halskette mit dem Medaillon, die sie nie ablegte. Ihre Hände und Unterarme waren dunkel vom Staub. Margaret presste die Lippen zusammen.
»Kind, was machst du da oben? Sylvie hat endlich eine Verabredung und ist einen Abend außer Haus, und da lässt du mich allein?«
»
Endlich?
« Jane hob fragend die Brauen.
»Ja. Mit John Dufour.«
»Ich weiß, mit wem. Ich finde es nur nicht besonders schmeichelhaft, ›endlich‹ zu sagen. Sie ist klug und ein wunderbarer Mensch, und er scheint bis über beide Ohren verliebt in sie zu sein.«
»Oh, so war das nicht gemeint. Großer Gott, du hast mich völlig missverstanden! Ich meinte, sie ist so pflichtbewusst, will mich nie allein lassen, nicht einmal jetzt, wo du zu Hause bist; außerdem haben die beiden bisher nichts weiter gemacht, als unten herumzusitzen und Scrabble zu spielen …«
»Willst du damit sagen, dass sie mir nicht zutraut, allein mit dir fertig zu werden?« Jane lächelte verschmitzt.
»Das liegt mir
völlig
fern! Du liebe Güte! Dreh mir bitte nicht jedes Wort im Mund herum«, sagte Margaret, bemüht, die Unterhaltung in eine erfreulichere Richtung zu lenken. Die Mütter und Töchter bei Laurie Colwin würden solche Klippen mit Sicherheit geschickter umschiffen.
»Tut mir leid.« Jane hockte sich ans Fußende des Bettes, einen Fuß auf den Schaukelstuhl gestützt.
»Polly weiß, wie sehr Wendy sie liebt.« Margaret drückte das Buch an sich.
»Wer?«
»Die Solo-Millers«, sagte Margaret, als Jane ihr das Buch behutsam aus den Armen nahm. Sie sah zu, wie Jane darin blätterte. »Ich wünschte, wir wären aus einem ähnlichen Holz geschnitzt«, fuhr Margaret fort. »Ich wünschte, du wüsstest … ich wünschte, du würdest mir nicht so viel nachtragen. Polly trägt Wendy nie etwas nach.«
»Sind das die beiden Hauptpersonen? In dem Buch?« Fragend sah Jane von dem Buch auf.
Margaret nickte und merkte zu ihrem Leidwesen, dass ihr Kinn dabei wackelte.
»Mom, wir sind keine Romanfiguren.«
»Polly und Wendy auch nicht!«, erwiderte Margaret leidenschaftlich. »Sie sind real. Sie lieben einander. Wendy möchte, dass Polly jeden Sonntag zum Mittagessen kommt, aber nur deshalb, weil sie ihre Tochter liebt! Mag sein, dass sie Fehler begangen hat, als die Kinder klein waren, und dass sie nicht jede Facette der Persönlichkeit ihrer Tochter versteht … aber Polly sieht es ihr nach, verzeiht ihr!«
»Mom …«
»Was ist in dem Medaillon?« Margaret fixierte die silberne Scheibe, die Jane um den Hals trug.
»Nichts.«
»Das stimmt nicht. Du nimmst die Kette nie ab. Du hast sie Tag und Nacht getragen, seit …« Ihre Stimme brach. »Ich bedaure zutiefst, damals die Erlaubnis gegeben zu haben, dass dieses Foto in der Klinik gemacht wurde. Aber ich konnte nicht anders, du warst völlig außer dir und hast mich angefleht …«
»Hör auf.« Jane saß wie angewurzelt da. Margaret sehnte sich danach, dass Jane ihre Hand ergriff, wie Polly es mit Wendy getan hätte. Sie sehnte sich nach dem lichten Augenblick, in dem sich ihre Blicke träfen und einer Versöhnung
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