Tanz im Mondlicht
sie vor dem Spiegel gestanden und versucht, eine Andeutung der Frau zu sehen, zu der Chloe heranwachsen würde? Wie oft hatte sie in ihren Augen und ihrem Lächeln nach einem Merkmal der Tochter gesucht, die sie nicht kannte? Sie wurde gleichermaßen von der immer wiederkehrenden, eigenen Version des Gedankens »Meine Tochter« verfolgt …
»Was ist geschehen?«, fragte sie. Von Chloes Bild geradezu magnetisch angezogen – wie der Mond von der Schwerkraft der Erde –, versuchte sie, sich Dylan einen Schritt zu nähern, konnte sich jedoch nicht von der Stelle rühren.
»Vorhin, als Sie von New York sprachen …«
Sie nickte.
»Und die Dinge, die passieren können …«
»Dinge, die einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen …«
Dylan starrte seine bandagierte Hand an; als er hochsah, loderte ein Feuer in seinen Augen. Sie waren nicht länger leer oder verloren, sondern brannten vor Hass.
»Ein Kreuzfeuer«, sagte er.
»O nein.«
»Doch. Es war genau, wie Sie sagten: die Guten und die Bösen, die aufeinander schossen. Isabel und ihre Mutter gerieten zwischen die Fronten. Ich war U. S.-Marshal. Ich war im Einsatz, versuchte, sie aus der Schusslinie zu bringen. Aber es gelang mir nicht …«
Jane, von der Macht des Bildes gebannt, drehte sich um und betrachtete abermals Chloe und Isabel. Im gleichen Maß, wie sie sich selbst in Chloe widergespiegelt sah, erkannte sie Dylan in Isabel. Seine Tochter war ein aufgewecktes, munteres kleines Mädchen, ein Kobold mit kastanienbraunen Haaren, in Chloes Umarmung gefangen.
»Es tut mir so leid«, sagte Jane.
Dylan nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Er runzelte die Stirn, die Linien zwischen seinen Augen wirkten wie gemeißelt. Sein Bart war dunkel und seine Augen immer noch blass, wie Steine unter Wasser, vom Fluss gewaschen. Er mied ihren Blick.
Ich weiß, wie es ist, eine Tochter zu verlieren,
hätte sie ihm am liebsten gesagt.
Sie richtete den Blick abermals auf Chloes Foto. Sie dachte an die Jahre, die ohne sie vergangen waren. Sie dachte an die Träume – die Alpträume, genauer gesagt –, die sie heimgesucht hatten, nachdem sie Chloe fortgeben musste. Sie dachte an die Nächte, in denen sie ihr Kopfkissen in den Armen gehalten hatte wie ein Baby und sich in den Schlaf geweint hatte.
Sie sah Dylan Chadwick an, dachte an ihren eigenen Kummer und wusste, dass sich ihre Schicksalsschläge nicht miteinander vergleichen ließen. Nicht im Geringsten. Als sie auf ihre Hand hinabblickte, sah sie den gespenstischen blauen Fleck. Den blauen Farbklecks an der Stelle, wo sie den Obststand gestreift hatte.
Den zersplitterten wackeligen Holzstand, frisch gestrichen im gleichen Blauton wie Rotkehlcheneier, von Chloe.
Chloe lebte. Sie war nicht von einem Kreuzfeuer niedergemäht worden. Sie hatte das Glück gehabt, heranzuwachsen, ein eigenes Leben zu führen. Das Leben, das Jane ihr geschenkt hatte. Sie atmete tief ein und stellte fest, dass es ihr gelang, sich einen Schritt weit von Chloes Bild zu entfernen. Und noch einen. Sie ging stetig weiter – einen Meter, zwei Meter –, bis sie die Küche durchquert hatte und sich vor Dylan Chadwick wiederfand.
Sie streckte die Hand nach ihm aus.
Sie ergriff seine verbundene Hand. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie spürte, wie ihr sein Schmerz unter die Haut ging. Er fühlte sich vertraut an. Sie konnte nachempfinden, was er in all den Nächten durchgemacht hatte, wie allein er sich im Dunkeln gefühlt hatte, wenn ihm der Verlust seiner Tochter bewusst wurde. Das verstand sie gut, sehr gut.
Dylan überließ ihr seine Hand. Eigentlich wäre es besser gewesen, wenn er sie beiseitegeschoben hätte. Wenn er sie mit einem Fußtritt aus der Küche hinausgeworfen und ihr befohlen hätte, ihre Pasteten zu nehmen und sich nie wieder in seinem Haus blicken zu lassen. Weil nichts Gutes dabei herauskommen würde, dass sie hier war – nicht für seine Familie.
Jane wollte Chloe.
Sie wusste noch nicht, wie sie vorgehen und was sie alles auf sich nehmen würde, aber sie war fest entschlossen, nie wieder auf Chloe zu verzichten. Sie sah den Mann an – diesen Fremden –, den Onkel, den ihre Tochter bekommen hatte, und wünschte sich, er möge die Wahrheit erkennen: Er möge Chloe in ihren Augen erkennen.
Und zur gleichen Zeit wünschte sie sich, dass er es nie herausfand.
Kapitel 12
D er Raum war hübsch und ruhig. Vögel sangen draußen vor dem Fenster in den Bäumen. Eine Goldamsel baute ein
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