Tanz im Mondlicht
Plantage?«
Er nickte. »Sie befindet sich schon lange im Besitz meiner Familie. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Schoß meines Großvaters saß, wenn er Traktor fuhr. Er war der Erste, der mein Interesse an Bäumen weckte, an ihrer Rinde, ihren Blättern … Mein Vater wollte, dass Eli – das ist mein Bruder …«
Jane stand reglos da, zwang sich, keinerlei Reaktion zu zeigen, als der Name des Mannes fiel, der ihre Tochter adoptiert hatte.
»… und ich ein College besuchen, um die Chance zu haben, etwas anderes aus unserem Leben zu machen. Das haben wir getan … aber den Gedanken, eines Tages zurückzukehren, habe ich nie aufgegeben.«
»Sie hatten Sehnsucht nach den Apfelbäumen, als Sie in New York lebten?« Sie lächelte.
Er nickte. »In gewisser Weise schon. Obwohl das Leben es gut mit mir meinte. Ich ging aufs College, wohnte in Washington, D. C., reiste kreuz und quer durch die Weltgeschichte und landete schließlich in New York. Immer wenn mir die Stadt zu groß oder zu erdrückend erschien …«
»Was immer wieder vorkommt«, unterbrach ihn Jane.
»Stellte ich mir vor, hier zu sein. Verrückt.«
Sie wartete, ermutigte ihn.
»Ich malte mir aus, in der Mitte der Plantage zu stehen. Mit Bäumen zu beiden Seiten, so weit das Auge reichte. Der endlose Raum, die Luft, das viele Grün …«
»Sie konnten wieder atmen.«
Er nickte.
»Mein Vater und mein Großvater brachten mir bei, etwas anzupflanzen. Schon als kleiner Junge hatte ich meinen eigenen Gemüsegarten. Nur ein paar Tomatenpflanzen auf einem kleinen Beet. Aber ich hegte und pflegte sie, und die Pflanzen wuchsen. Das war ein gutes Gefühl.«
Jane wandte sich erneut dem Foto zu. Chloe und ihre Freundin knieten zwischen Blumen. Jane betrachtete Chloes Augen, die das andere Mädchen liebevoll ansahen. »Offenbar gibt es noch einen Gärtner in Ihrer Familie«, sagte Jane mit klopfendem Herzen.
Dylan antwortete nicht.
»Wie alt ist Chloe auf dem Foto?«
»Fünf. Beide.«
»Wer ist das andere Mädchen?«
»Meine Tochter.«
»Sie ist genauso alt wie Chloe?« Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen, genauso schnell wie die Erkenntnis: Es gab einiges, was sie von ihrer Tochter nicht wusste. Zum Beispiel, dass sie eine Cousine hatte.
»Im selben Jahr geboren.«
»1988.« Das Datum entfuhr Jane, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. Aber Dylan schien nichts bemerkt zu haben.
»Ja«, sagte er.
»Chloe wurde in welchem Monat geboren …?«
»Im Februar. Unser kleines Wunderkind.«
Jane biss die Zähne zusammen, konnte ihn nicht anschauen. Seine Worte versetzten ihr einen Schlag. Wie konnte er so etwas sagen, wie konnten Fremde dieses Wunder, das ihr Kind war, für sich beanspruchen? »Wunderkind?«, zwang sie sich zu fragen.
»Ja. Für meinen Bruder und meine Schwägerin, die sich schon immer ein Kind gewünscht hatten. Sie sind phantastisch, konnten keine eigenen Kinder bekommen. Es war so unfair. Eines Tages beschlossen sie, ein Kind zu adoptieren …«
»Eines Tages beschlossen sie, ein Kind zu adoptieren«, wiederholte Jane, während die Worte in ihrem Kopf nachhallten. »Chloe?«
Dylan nickte. »Für mich ist sie kein Wunderkind im landläufigen Sinn. Keine Ahnung, was mich veranlasst hat, diesen Ausdruck zu benutzen … vermutlich der Gedanke an das Wunder, das sie bewirkt hat. Alles war hier wie verwandelt. Brachte viel Freude.«
Jane blickte zu dem Bild hoch. »Das sieht man. Zwei Mädchen im selben Alter.«
»Chloe wurde im Februar geboren, Isabel im Juni.«
»Im Abstand von vier Monaten.« Ihr Herz verkrampfte sich. Der Gedanke an all die Jahre im Leben ihres Kindes, die ohne sie vergangen waren, schien ihr unerträglich. »Die zwei stehen sich bestimmt sehr nahe …«
»Standen.«
Jane nickte geistesabwesend, in ihren eigenen Kummer versunken. Doch dann blickte sie Dylan an, sah seine Augen. Sie waren leer, verloren, hoffnungslos. Der satte goldene grünbraune Farbton war mit einem Mal verschwunden; sie wirkten blass, wie Tee, er sah aus wie ein Gespenst. Ihr Herz flog ihm zu. »Standen?«
»Meine Tochter …«
Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er öffnete den Mund, um weiterzusprechen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Sie sah, wie er die Worte und Gedanken verdrängte. Stumm stand er da. Sie kannte seine Lebensgeschichte nicht, aber sie wusste, was er in diesem Augenblick empfand. Seine Tochter war fort. Jane spürte es, bis in jede einzelne Zelle ihres Körpers. Wie oft hatte
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