Tanz im Mondlicht
Nest in den Zweigen des Ahorns – einen weichen, seidigen, hängenden Korb aus Gräsern und Flechten. Margaret lehnte sich gegen die Kissen, genoss das Ständchen, das sie ihr brachten. Sylvie saß mit einer Stickerei beschäftigt im Schaukelstuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Jane stand am Fenster, beobachtete den Nestbau.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Margaret lächelnd.
»Ich schaue dem Baltimorevogel zu.«
»Baltimorevogel, Goldamsel, Golddrossel, Pirol«, warf Sylvie ein. »Wer soll sich da noch auskennen? Da kennt man einen Vogel zeitlebens unter einem bestimmten Namen, und plötzlich beschließen die Wissenschaftler, die Spezies umzutaufen.«
»Virginia Chadwick würde dir zustimmen. Sie würde dir erklären, dass all diese Vögel Unterarten sind und zur Familie der
Oriolidae
gehören«, erklärte Margaret. »Sie war eine hervorragende Lehrerin auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Sie würde dir aber auch erzählen, Sylvie, dass eine präzise Gruppeneinteilung der Pflanzen und Tiere wichtig ist, um ihre Identität zu bestimmen.«
»Die Identität ist das A und O«, sagte Jane mit eisiger Stimme. »Sogar für Vögel.«
Wieso rief diese unverfängliche Aussage bei Margaret eine Gänsehaut hervor? Plötzlich merkte sie, dass ihr soeben im Beisein von Jane der Name Virginia Chadwick herausgerutscht war.
»Tut mir leid, Kind«, sagte sie und nahm wahr, dass Sylvie zu sticken aufgehört hatte.
»Schon in Ordnung, Mom.«
»Also, was wollt ihr zum Abendessen?«, warf Sylvie hastig ein.
»Ich habe Mrs. Chadwick nie kennengelernt. Wieso wart ihr beide so gut befreundet?«
»Kind, das ist doch Schnee von gestern.«
»Für mich nicht«, sagte Jane sanft.
Sylvie nahm ihre Stickerei wieder auf, mit noch größerer Aufmerksamkeit. Entschlossen beugte sie sich über das Gitterleinen, was sie daran erinnerte, wie sie früher am Esstisch gesessen hatte, um ihre Hausaufgaben zu machen.
»Wir haben beide an der Salve Regina studiert – sie einige Jahre vor mir. Wir wurden beide Lehrerin. Sie unterrichtete Naturwissenschaften und ich Englisch, an der gleichen Schule; unsere Klassenzimmer befanden sich an entgegengesetzten Enden des Ganges. Sie war in gewisser Hinsicht meine Mentorin. Trotz der unterschiedlichen Fachgebiete bewunderte ich ihren messerscharfen Verstand. Und natürlich hatten wir die Verbindung durchs College.«
»Das katholische«, sagte Jane.
»Ja, Kind. Ein katholisches College. Sie war – und ist noch heute – eine fabelhafte Frau. Eine gute Freundin, fürsorglich und engagiert …«
»Und ihr hattet beide Kinder. Du zwei Mädchen, sie zwei Jungen.«
»Ja.«
»Kennst du ihre Söhne?«
»Jane, bitte …«
»Kennst du Dylan?«
Margaret runzelte die Stirn. Sie hatte damit gerechnet, dass Jane nach Eli fragen würde, der das Baby adoptiert hatte. Sie fühlte sich ein wenig verwirrt.
»Er fährt seine Mutter zur Schule, wenn ein Pädagogen-Dinner stattfindet«, ließ sich Sylvie vernehmen. »Ich kenne ihn vom Sehen. Warum?«
»Was ist aus seiner Familie geworden?«
Die Erinnerungen waren verschwommen. Margaret runzelte die Stirn, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie besann sich, dass Virginia unbezahlten Urlaub genommen hatte, lange, einen Monat oder so. Sie trauerte um ihre Enkelin und ihre Schwiegertochter …
»O Gott, das war grauenhaft«, sagte Sylvie. »Sie wurden erschossen. Dylan war eine Art Agent – FBI , glaube ich …«
»Nein, er war U. S.-Marshal«, korrigierte Margaret sie. »Gehörte zur ältesten Strafvollzugsbehörde auf Bundesebene. Ich erinnere mich, dass Virginia sehr stolz auf ihn war. Und danach am Boden zerstört …«
»Wie ist das passiert?«
Margaret schwindelte, von Gefühlen überwältigt. Sie nahm die Puppe, die Jane ihr geschenkt hatte, und drückte sie an ihre Brust. Sie erinnerte sich, wie sie ihre eigenen Babys in den Armen gehalten hatte. Und an ihre alte Puppe, Lolly … Ein Gefühl des Wohlbehagens breitete sich in ihrem Körper aus. Sie wusste nicht mehr, wie die Frage gelautet hatte. Als sie hochblickte, stellte sie fest, dass beide Töchter sie ansahen.
Die Goldamsel sang noch immer vor dem Fenster. Sie sah, wie der Vogel pfeilschnell im Baum verschwand, ein verschwommener Fleck in Schwarz und Orange. Das Nest schaukelte am Ast hin und her, wie ein silberner Korb mit Eiern. Der Gesang des Vogels war rein und klar.
»Meine Freundin Virginia ist Naturwissenschaftslehrerin«, sagte Margaret.
Weitere Kostenlose Bücher