Tanz im Mondlicht
Spülbecken, und sie sah einen kleinen Plastikkoffer mit einem roten Kreuz vorn drauf.
Sie lächelte. »Ich bin nicht wirklich Ärztin.«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Hatte ich schon vermutet. In meinem früheren Leben wurde ich dafür bezahlt, zu erkennen, ob jemand die volle Wahrheit sagt. Bei Ihnen werde ich ein Auge zudrücken, weil ich annehme, dass Sie mich nur beruhigen wollten.«
»Sie sind ungemein scharfsinnig. Halten Sie still.« Sie tupfte seine Handfläche mit einem Papiertuch ab, öffnete den Erste-Hilfe-Koffer und nahm eine Tube mit Salbe heraus. Sie trug sie auf, dann verband sie seine Hand mit einem Stück Gaze. »Das war’s.«
»Klasse. So gut wie neu.«
Sie nickte. Er deutete auf den Küchentisch, rückte ihr einen Stuhl zurecht. Jane nahm Platz. Der Emailtisch war cremefarben, mit abgesplitterten Kanten und pinkfarbenen Rosen an den Ecken. Dylans Küche glich einer Zeitmaschine. Sie fühlte sich in ihre Jugend zurückversetzt, in eine andere Ära.
»Kommen Sie ja nicht auf die Idee, Ihre Küche umzumodeln«, sagte sie. »In New York würde man ein Vermögen für eine solche Einrichtung zahlen.«
»Ah, New York.«
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und lächelte. »Vermissen Sie die Großstadt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten.«
»Sollen wir Erfahrungen austauschen, über bevorzugte Wohnviertel und Restaurants?«
»Um festzustellen, dass wir unsere Zeitung am gleichen Kiosk gekauft haben?«
»Nein, meine wurde nach Hause geliefert.«
»Meine auch.« Er grinste.
»Also vergessen wir den gemeinsamen Zeitungskiosk. Es muss noch etwas anderes geben, was uns verbindet.«
Er nickte, antwortete aber nicht.
»Seltsam. Als ich in Rhode Island aufwuchs, konnte ich es nicht erwarten, von hier wegzukommen. Seit ich in der Großstadt wohne, komme ich mir wie eine waschechte New Yorkerin vor. Dort lebt man so intensiv. Ich habe immer das Gefühl, am Abgrund zu leben, lebendig zu sein – aber auf angenehme Weise. Doch seit ich nach Twin Rivers zurückgekehrt bin, ist mir, als hätte ich die Provinz nie verlassen …«
»Wie kann man es als angenehm empfinden, immer am Abgrund zu leben?«, fragte er, ohne auf ihre letzte Bemerkung einzugehen. Der humorvolle Funke in seinen Augen war erloschen; er lehnte sich gegen die Frühstückstheke und beobachtete sie.
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte sie. »Die weniger phantastischen Aspekte, die Schattenseiten.« Sie dachte nach. »Wenn man beispielsweise nachts eine Straße entlanggeht, achtet man auf jeden, der einem begegnet, lauscht auf die Schritte hinter sich … und wenn man eine Straße überquert, weiß man, dass man sich nie auf eine rote Ampel verlassen sollte, weil unter Umständen ein Taxi angeprescht kommt, bei Rot über die Kreuzung fährt und dich in null Komma nichts ins Jenseits befördert … oder ein Blumentopf fällt von einer Terrasse im zwanzigsten Stock und zerquetscht dir das Gehirn … oder du wirst zufällig Zeuge einer Schießerei zwischen Räuber und Gendarm, gerätst ins Kreuzfeuer …«
Dylan stand mit ausdrucksloser Miene da und hörte zu.
»Aber es gibt auch eine herrliche Art, sich am Abgrund zu bewegen«, fuhr sie fort. »Wenn man beispielsweise an einem Aprilmorgen die Charles Street entlanggeht und die Callery-Pfirsichbäume in voller Blüte stehen – dann weckt das den Wunsch, ein Gedicht zu schreiben. Und wenn man am Freitagmorgen die Zeitung aufschlägt und entdeckt, dass am Abend das Eliot Feld Ballet im Joyce Theater auftritt, und man anruft, um Karten zu bestellen. Oder wenn man im Juli mitten in der Nacht schwitzend aufwacht, die Narragansett Bay vermisst und in den Battery Park geht, um den Wind im Hafen zu spüren und eine Rundfahrt mit der Staten-Island-Fähre zu machen.«
»Sie lieben die Stadt, wie mir scheint.«
»Lieben, hassen. Aber meistens lieben.« Lächelnd zuckte sie die Schultern. »Das ist eben New York.«
Er nickte.
Jane sah sich in der Küche um. Ihr Herz drohte auszusetzen, begann zu rasen, als sie das Foto entdeckte: Chloe und ein anderes Mädchen im Alter von fünf oder sechs Jahren, von Blumen umgeben, kniend, die Arme um die Schultern der anderen geschlungen. Unendlich langsam, wie zufällig, bewegte sich Jane auf die Wand zu, an der das Bild hing.
»Und wie sind Sie hier gelandet?«, fragte sie.
»Ich liebe das Land«, erwiderte er schlicht.
Die gelassene Antwort lenkte sie für einen Moment von Chloes Foto ab. »Sie meinen die
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