Tanz im Mondlicht
Anflug eines schlechten Gewissens bemerkbar: Die Beziehung zwischen ihnen war auf einem vielschichtigen Lügengewebe aufgebaut.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie, ihre Empfindungen verdrängend; sie wusste, dass ihr jedes Mittel recht war, um den Kontakt zu Chloe enger zu gestalten, auch wenn die Frage nach Dylans Befinden aufrichtig gemeint war.
»Gut. Und Ihnen?«
»Prima. Ich konnte es kaum noch erwarten, heute Abend auszugehen.«
Er lachte. »Aha, deshalb. Ich war schon auf halbem Weg zur Tür, als Sie aus dem Haus gestürmt kamen und mich praktisch niedergemäht haben.«
»Tut mir leid.« Sie lächelte. »Ich habe mich eingesperrt gefühlt, wie auf heißen Kohlen. Vermutlich bin ich zu alt, um in meinem Mädchenzimmer zu schlafen. Meine Mutter und meine Schwester …«
»Ich weiß, ich weiß.« Er schüttelte den Kopf. »Mit meiner Mutter und meinem Bruder ergeht es mir genauso … egal, wie alt wir sind, die Dynamik solcher Beziehungen bleibt immer dieselbe. In der Familie haben wir heute noch den gleichen Status wie mit fünfzehn und werden entsprechend behandelt.«
Jane schwieg. Seine Worte hallten in ihren Ohren nach. Außerhalb des Wagens offenbarte sich die Frühlingslandschaft in ihrer ganzen Üppigkeit. Überall am Wegrand blühte der Flieder. Die Blüten waren weiß, von einem tiefen oder blassen Purpurrot, lavendelfarben und violett; ihr Duft drang durch die offenen Fenster. Die neuen Blätter hüllten die Bäume in ihre scharf umrissenen, zarten Grünschattierungen ein. Der Abend Anfang Mai war dunkel und die Luft lau.
Sie fuhren nach Norden, in Richtung Providence. Die Silhouette der Stadt kam in Sicht. Schon als Heranwachsende hatte Jane die Spitznamen der beiden höchsten Bauwerke gekannt: »Kleenex-Schachtel und Superman-Gebäude«. Die Kleenex-Schachtel, die den Hospital Trust beherbergte, war hoch und eckig; das Fleet, vormals Sitz der Industrial National Bank, mutete wie ein Raumschiff an und war, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, zu Beginn der TV -Serie
Superman
zu sehen: das Gebäude, das George Reeve mit einem einzigen Sprung zu erklimmen vermochte. Rechts daneben, ein wenig zurückversetzt, befand sich College Hill, eine Anhöhe, gekrönt von den rosafarbenen Backsteingebäuden der Brown University. Überall ragten Kirchtürme auf, die daran erinnerten, dass Providence von den Puritanern gegründet worden war.
»Als käme ich in meine alte Heimat zurück«, sagte sie.
»Providence?«
»Die zweitwichtigste Stadt in meinem Leben …«
»Für mich auch. Obwohl sie sich nicht wirklich mit New York messen kann.«
»Muss sie auch nicht«, erwiderte sie leise. »Sie besitzt einen Zauber, den New York nicht einmal ansatzweise verstehen könnte.«
Er lachte. Sie fuhren am Zoo und an der blauen Kakerlake vorbei – einem riesigen Ungeziefer auf dem Dach eines Lagerhauses, das für die Dienste eines Kammerjägers warb –, dann tauchte rechter Hand der Hafen auf. Öltanker, die ihre Fracht löschten, Containerschiffe, die Fahrzeuge aus Japan entluden. Die Fähre lag an ihrem Landeplatz am India Point. Genau dort war am Heiligen Abend 1898 ein Segelschiff vor Anker gegangen, mit Janes Großmutter mütterlicherseits an Bord. Ihr jüngerer Bruder hatte während der Überfahrt von Irland das Licht der Welt erblickt, und die Eltern überließen ihr die Wahl des Namens: George. Jane überlegte, ob sie Dylan davon erzählen sollte, misstraute aber ihren eigenen Gefühlen, wenn es um Geschichten ging, in denen ein Baby vorkam. Sie betrachtete das spiegelglatte, silberfarbene Wasser, dessen Oberfläche von keinem Windhauch aufgewühlt wurde.
Dylan fädelte sich auf die Route 195 ein und nahm die Ausfahrt Wickenden Street. Providence verfügte über viele Trabantenstädte innerhalb der geographischen Grenzen: Little Italy auf dem Federal Hill, das Akademikerviertel rund um die Brown University, die Künstler, die sich mit den Portugiesen Fox Point teilten, die Enklave der Blaublütigen auf der East Side, der Bezirk der angehenden Designer von der RISD . Jane sah ihn an.
»Was ist?« Er lächelte, als er ihren Blick spürte.
»Ich habe mich gefragt, wohin wir fahren.«
»Trauen Sie mir nicht zu, ein gutes Lokal zu finden?«
Sie lachte. »Doch. Ich bin nur neugierig, welches.«
Lächelnd fuhr er sie die Benefit Street entlang, elegant mit ihren Gaslaternen und Herrenhäusern im Kolonialstil. Der Verkehr schien dichter zu sein als üblich. Sie fuhren im Schritttempo am John
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