Tanz im Mondlicht
auseinanderzusetzen.«
»Wie sie sagte: Als wir klein waren, hat sie für uns gesorgt; jetzt sind wir an der Reihe.«
»Aber wir hatten keinen Diabetes, keine Durchblutungsstörungen, keine Gleichgewichtsstörungen … und keinen …«
»Sprich es nicht aus.«
»Was?«
»Das Wort Alzheimer.«
»Soll ich es unter den Teppich kehren, weil du dich fürchtest, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?«
Sylvie schüttelte den Kopf. Eine Welle der Angst stieg in ihr auf. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit veranstaltete sie in der Schulbibliothek einen Wettbewerb für Nachwuchsautoren und nahm die Gewinner ins Marsh Glen Care Center mit, um den Insassen des Heims ihre Gedichte und Essays vorzulesen. Sie dachte an die alten Leute, die dort betreut wurden. Einige wirkten ungemein fit – sorgfältig gekleidet und frisiert, aufmerksam und aufgeregt.
Andere waren in ihren Rollstühlen festgeschnallt, ein Häufchen Elend mit haltlos hin- und herpendelndem Kopf, das Kinn auf die Brust gesackt, während wieder andere stöhnten oder mit den Fingern schnippten, sich mit den Geistern von Verstorbenen oder unsichtbaren Personen unterhielten. Ihr Anblick brach Sylvie jedes Mal das Herz. Was für Menschen waren sie gewesen, bevor das Alter seinen Tribut verlangte? Sie hatte Angst, dass ihre Mutter genauso senil werden könnte wie sie.
»Syl.« Jane packte Sylvie und umarmte sie. »Wir beide lieben sie, in welchem Zustand auch immer.«
Sylvie holte tief Luft. Ihr war schwindelig, als wäre sie einer Ohnmacht nahe. Sie stieß ihre Schwester beiseite und setzte sich auf die Treppe. Sie blinzelte und blickte hoch, in Janes blaue Augen. Ihre Schwester sah umwerfend aus, hatte sich für den Abend in Schale geworfen. John würde in einer Stunde zum Pizzaessen kommen. Janes Augen spiegelten nichts als schwesterliche Liebe wider, aber Sylvie fand den Anblick unerträglich.
»Du hast leicht reden, schließlich lebst du in New York«, sagte sie. »Du kommst kurz nach Hause, um nach dem Rechten zu sehen, und dann nichts wie weg.«
»Das stimmt nicht.«
»Du hast ein Geschäft, um das du dich kümmern musst! Ich weiß das. Willst du alles den Bach hinuntergehen lassen, was du dir aufgebaut hast, und hierbleiben, auf unbestimmte Zeit?«
»Das ist der erste Urlaub seit fünfzehn Jahren. Meine Kunden werden mich nicht vergessen. Und ich werde nicht vergessen, wie man backt.«
»Natürlich nicht. Du hast ja in den letzten Tagen Torten gebacken und vermutlich einen Abnehmer in Rhode Island gefunden …« Sie verstummte, bot Jane die Gelegenheit, sie ins Bild zu setzen. Aber ihre Schwester reagierte nicht, und Sylvie errötete, wusste genau, warum.
»Sylvie …«
»Glaub nicht, ich hätte nichts bemerkt. Du hast
Apfel
pasteten gemacht. Das ganze Haus duftet nach Äpfeln.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt …«
»Und es waren Apfelschalen im Müll.«
»Du hast im
Müll
gestöbert?«
»Ich finde dein Verhalten falsch.«
»Ich nicht.«
»Es hat mit Chadwick Orchards zu tun, richtig? Du machst Apfelpasteten, um zu zeigen, dass ihr euch auf einer Wellenlänge befindet. Sie lebt inmitten von Apfelbäumen, und deshalb bäckst du dir das Herz aus dem Leib, um ihr Apfelpasteten zu schenken. Wenn sie am Strand wohnte, würdest du mit
Rotalgen
backen …«
»Du hast den Müll durchsucht?«, wiederholte Jane kopfschüttelnd, als könnte sie es nicht glauben. Was sonderbar klang, ausgerechnet aus Janes Mund. Als Kind hatte sie mit Leib und Seele Detektiv gespielt, als es darum ging, zu ermitteln, wo sich ihr Vater herumtrieb. Sie hatte seine Schubladen und Taschen durchwühlt, sein Notizbuch gelesen, in seinem Handschuhfach gestöbert. Sylvies Magen verkrampfte sich bei der Erinnerung. »Das ist widerwärtig«, fuhr Jane fort.
»Nein. Widerwärtig ist, dass du die Chadwicks derart behelligst. Ich wette, sie haben keinen blassen Schimmer, wer du bist, oder?«
»Sie wissen, wer ich bin. Ich habe ihnen meinen Namen genannt.«
»Dann kannst du nur hoffen, dass sie ihn niemals im Beisein von Virginia erwähnen. Sie wacht mit Argusaugen über ihre Familie. Du kennst die Adoptionsbedingungen. Niemand durfte etwas über deine Identität erfahren außer ihr – sie
kennt
den Namen Jane …
«
Sylvies Stimme verklang, sie wusste, dass Virginias Gedächtnis mit jedem Tag schwächer wurde, wie bei ihrer Mutter. Sie schaltete in eine andere Gangart um. »Du hast auf das Kind verzichtet, Jane.«
»Ich weiß. Dafür hat Mom gesorgt.«
»Wage nicht, Mom
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