Tanz im Mondlicht
die Schuld zu geben! Du warst zu jung, hast noch studiert, und er weigerte sich, dich zu heiraten …«
Sylvie schluckte. Sie sah, wie zwei rote Flecken auf den Wangen ihrer Schwester erschienen, und wusste, dass sie zu weit gegangen war.
»Ich habe es nicht so gemeint«, sagte sie und wünschte sich, sie könnte ihre Worte zurücknehmen. Sie sah, wie Jane die Augen niederschlug und sich abwandte. Der Anblick zerriss Sylvie das Herz. Sie erinnerte sich, wie sehr Jane den Vater ihres Kindes geliebt hatte. Früher hatten die beiden oft in Zeitschriften geblättert, Bilder von Bräuten angeschaut, sich an ihre Stelle versetzt und geschworen, Brautjungfer bei der Hochzeit der anderen zu sein, aber keine hatte geheiratet.
»Dieser Umstand wäre am wenigsten ins Gewicht gefallen, wie sich herausgestellt hat«, erwiderte Jane ruhig. Sie sah hoch. »Damals im Sommer – in dem ganzen Jahr ohne ihn – war ich nicht sicher, ob ich ohne ihn weiterleben könnte. Aber ich schaffte es.«
»Ich weiß.«
»Weil ich ihn zu lieben glaubte. Und Liebe ist eine Macht, die viel bewirkt. Sie hat dich fest im Griff … jeden deiner Atemzüge. Dein Herz, deinen Puls, deine Gedanken, alles.«
Sylvie schloss die Augen, dachte an John. Empfand sie das Gleiche für ihn?
»Alles«, wiederholte Jane. »Und sie lässt dich nicht los. Weißt du, wie mir bewusst wurde, dass ich Jeffrey nicht wirklich geliebt habe, Sylvie?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Weil sie mich losgelassen hat. Die Liebe löste sich in Luft auf.«
»Das freut mich.« Sylvie dachte, dass Janes Definition von Liebe ziemlich schrecklich klang, wie eine Falle oder Krankheit.
»Aber meine Liebe zu Chloe hat mich nie losgelassen«, erklärte Jane mit entschlossener Stimme. »Sie begleitet mich auf Schritt und Tritt, die ganze Zeit. Ich kann kaum glauben, dass seit ihrer Geburt auch nur zehn Minuten vergangen sind, ganz zu schweigen von fünfzehn Jahren. Ich kann sie immer noch spüren – genau hier …« Sie hob die Arme, als wiege sie sanft ein Baby, doch ihre Augen, die auf Sylvie gerichtet waren, blickten grimmig.
»Dann musst du sie loslassen,
diese
Liebe
«,
befand Sylvie, verstört durch die Eindringlichkeit der Gefühle, die ihre Schwester damit ausdrückte.
»So funktioniert das nicht. Liebe entzieht sich unserem Einfluss – sie ergreift Besitz von
uns
. Hast du das noch nicht herausgefunden?«
Sylvie stand reglos da. Sie dachte an John. An den Seelentröster, den angenehmen Gefährten, der nichts forderte, keine Herausforderung darstellte. Sie spürte, dass sich zwischen ihnen etwas aufzubauen begann, wie die ersten Zweige oder Halme eines Nests, solide und real. Er hatte ihre Hand gehalten – zweimal. Beide Male hatte sie ein Kribbeln im Nacken gespürt. Wenn sich ihre Knie unter dem Kartentisch berührten, erbebte sie. Sie hatte Lavendel-Badesalz gekauft, extra für heute Abend, wenn er sie hoffentlich küssen würde … Aber die Leidenschaft, mit der Jane über die Liebe redete … nein, die war Sylvie fremd.
»Das klingt ziemlich verrückt«, sagte Sylvie. »Als würde dich diese Liebe um den Verstand bringen.«
»Tut sie auch, in gewisser Weise. Wenn ich an all die Jahre denke … ihre ersten Schritte, die Milchzähne, der erste Schultag, die Musik, die ihr gefällt … wenn ich an solche Dinge denke …« Sie schloss die Augen.
Sylvie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Jane zu umarmen und davonzulaufen. Sie erinnerte sich an die Zeit, in der sie um den Verstand ihrer Schwester bangte – und um ihr Leben. Die Tage nach der Geburt des Kindes waren schrecklich gewesen. Jane hatte ununterbrochen geschlafen. Noch um drei Uhr nachmittags hatte sie sich in den Federn verkrochen, die Decke über den Kopf gezogen.
Ungefähr zwei Wochen nach der Freigabe zur Adoption war sie aus ihrer Betäubung aufgewacht, und der Schmerz setzte ein. Sylvie hatte mit ihrem Studium an der Brown begonnen, aber unter Heimweh gelitten, sich Sorgen gemacht und viele Wochenenden zu Hause verbracht. Sie hörte noch heute die erstickten Klagelaute, die ihre Schwester von sich gab: hoch, beinahe unmenschlich, wie ein Eistaucher nachts auf dem See. Wie ein Tier. Jane hatte sie lange in ihrem Inneren verschlossen, all die Monate im St. Joseph’s und während der Tage in der Klinik, doch nun brachen sie sich ihre Bahn … wie etwas Lebendiges, die letzten Überreste des Lebens, das in ihr gewachsen war. Sylvie hatte mit ihrer Schwester getrauert,
Weitere Kostenlose Bücher