Tanz im Mondlicht
lag weiß Gott wie lange auf dem Boden, mit furchtbaren Schmerzen. Du hättest sie sehen sollen – hören sollen! Sie war halb von Sinnen. Sie packte meine Hand, rief deinen Namen … wiederholte fortwährend, dass sie dir etwas sagen müsse …«
»Es tut mir leid.« Jane schloss die Augen, um das Bild zu verdrängen.
»Und das alles nur, weil du dein Leben auf einer Lüge aufbaust.«
»Nein, tue ich nicht.«
»Du hast um den heißen Brei herumgeredet, als ich dich nach deinen Plänen fragte, und du führst die Chadwicks hinters Licht. Egal, was du ihnen wegen der Pasteten oder über deine Bäckerei erzählst, es ist nicht die wahre Geschichte. Was du tust, ist falsch, Jane.«
Jane öffnete den Mund, um Sylvie zu sagen, dass sie nichts verstand. Aber plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Schwester recht hatte. Sie hatte mit einem Mal das Gefühl, ausgebrannt und leer zu sein, und die grelle Krankenhausbeleuchtung und öden blauen Wände schienen über sie hereinzubrechen. Dylans Worte über Chloes Kummer klangen in ihren Ohren nach. Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor, bloßgestellt im hellen unerbittlichen Licht.
Was sollte sie nur tun?
»Wie ist sie hierhergekommen?«, fragte Jane. »Mom, meine ich.«
»Ich habe die 911 angerufen. Dieselbe Ambulanz, von der sie schon das letzte Mal in die Klinik gebracht wurde, holte sie ab. Der Notarzt erinnerte sich an sie.«
»War sie bei Bewusstsein?«
Sylvie gab einen erstickten Laut von sich, halb Lachen, halb Weinen. »Es reichte aus, um auf eine Fliege zu deuten, die hinten im Wagen herumflog. Und um die Frau, die ihren Blutdruck maß, zu fragen, was ihr Lieblingsfach in der Schule gewesen sei.«
»Rektorin bis ins Mark. Und, was sagte die Frau?« Jane lächelte bei dem Gedanken.
»Sport.«
»Die Antwort hat Mom mit Sicherheit nicht gefallen«, meinte Jane, und Sylvie und sie lachten leise. »Weißt du noch, dass Sport in ihren Augen kein richtiges Unterrichtsfach war? Sie gab uns andauernd Entschuldigungen mit, damit wir in der Bibliothek bleiben und lesen konnten.«
»Ich erinnere mich. ›Hiermit bitte ich, meine Tochter vom Sportunterricht zu befreien, da sie sich eine Verletzung am Zeh zugezogen hat.‹ Am liebsten hätte sie geschrieben: ›… da sie hoch begabt ist und ihre kostbare Zeit nicht damit vergeuden sollte, Ball zu spielen.‹«
» … oder Kuchen zu backen.«
»Ach, Jane.« Sylvies Blick war voller Kummer.
»Ich weiß, dass ich sie enttäuscht habe.«
»Sie wollte nur dein Bestes. Sie dachte, wenn du das Baby zur Adoption freigibst, könntest du dein Studium beenden.«
»Das war mir klar. Aber ich war nicht mehr die Gleiche. Wahrscheinlich hat sie diesen Aspekt vergessen – dass die Geburt eines Kindes dich für immer verändert. Egal, ob du es großziehst oder nicht.«
»Du warst so jung«, sagte Sylvie.
»Ich war alt genug, um ein Kind in die Welt zu setzen.«
»Lass uns nicht streiten, okay? Nicht, solange Mom im Operationssaal liegt …«
»Wer streitet denn!«, entgegnete Jane. Aber ihr Körper fühlte sich steif und verspannt an wie der eines Preisboxers, der nicht in Form ist. Ihre Familie würde nie begreifen, was in ihr vorging. Sylvie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl es war, zwanzig Jahre alt zu sein, mit prallvollen, schmerzenden Brüsten, weil es kein Baby gab, das die Muttermilch trank. Sie würde nie für möglich halten, dass Jane noch heute, sechzehn Jahre danach, ein- oder zweimal im Monat von der Entbindung träumte. Sie hatte in einer Klinik nicht weit von hier stattgefunden. Der Operationssaal erinnerte an den Kreißsaal, in dem sie in den Wehen gelegen und Chloe zur Welt gebracht hatte.
Genau in diesem Moment kam ein Arzt in grünem OP -Kittel durch die Tür der Notaufnahme. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand, warf einen prüfenden Blick darauf und rief: »Sylvie Porter?«
»Das bin ich.«
Der Doktor kam zu ihnen. Er war ungefähr fünfunddreißig, kräftig gebaut, mit ernsten braunen Augen und beginnender Stirnglatze.
»Und ich bin Jane Porter«, sagte Jane. »Wir sind Margaret Porters Töchter.«
»Ich bin Dr. Becker. Ich habe Ihre Mutter operiert.« Er blickte sich im Raum um. In einer Ecke standen zwei freie gelbe Vinylsessel, auf die er deutete. Sie strebten in die angegebene Richtung, doch dort angelangt, machte niemand Anstalten, Platz zu nehmen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Jane.
»Sie hatte große Schmerzen, als sie eingeliefert wurde«, ließ sich Sylvie
Weitere Kostenlose Bücher