Tanz im Mondlicht
Bruder und meiner Schwägerin kein Sterbenswort verraten, aber Chloe hat in ihrem jungen Leben schon viel Kummer erlitten.«
»Das wissen die beiden auch so«, entgegnete Jane. »Bestimmt haben sie ebenfalls um deine Tochter getrauert …«
Dylan schüttelte den Kopf. Er betrachtete abermals das Bild, dieses Mal richtete sich sein Blick jedoch auf seine Nichte. »Chloe trauert am meisten um ihre Mutter. Ihre leibliche Mutter.«
Jane antwortete nicht. Sie starrte ihn wortlos an.
Dylan befestigte das Foto wieder an der Kühlschranktür. Er rückte es gerade. Als er sich wieder umdrehte, sah er, wie Jane darauf wartete, dass er fortfuhr.
»Ich glaube, sie wird nie darüber hinwegkommen. Dass sie zur Adoption freigegeben wurde.«
Jane nickte. Ein Telefon läutete. Es war nicht Dylans – es musste also ihr Handy sein. Aber sie schenkte ihm keine Beachtung, obwohl es ununterbrochen klingelte. Sie sah ihn an, mit gramvoller Miene, als käme sie sich genauso verloren vor wie er. Sie war offensichtlich sehr empfindsam, denn Chloes Kummer schien sie furchtbar mitzunehmen.
»Was hast du?« Er trat einen Schritt näher und sah, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Ich bin froh, dass Chloe dich hat.«
»Mich? Ich bin nur ihr Onkel. Ich habe immer das Gefühl, nicht genug für sie zu tun.«
»Ich freue mich trotzdem für sie. Dass sie jemanden hat, mit dem sie reden kann. Dem sie sich anvertrauen kann und der ihre Kümmernisse ernst nimmt – ein anderer hätte sie vielleicht mit einem Achselzucken abgetan.«
»Ich vergesse nicht so leicht.« Er stand nun unmittelbar neben ihr. Er hätte gerne ihre Tränen getrocknet. Wenn sie es zuließe, würde er sie für den Rest des Abends in den Armen halten. »Das ist typisch für mich; ich vergesse nicht so leicht«, sagte er abermals und sah in ihre blauen Augen. Seine Stimme versagte, und er musste sich räuspern.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Er nickte.
»Nein, ist es nicht.« Sie berührte seine Wange, ihre Hand ruhte auf seinem bärtigen Gesicht. »Wie könnte es auch.«
»Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden. So sollte es eigentlich auch bei mir sein.«
»›Sollte‹ ist ein schreckliches Wort. Du setzt dich damit selbst unter Druck, und das hast du nicht verdient.«
»Danke für dein Verständnis.« Er war kaum fähig, die Worte über die Lippen zu bringen.
Sie lächelte so erfreut – als hätte er ihr soeben ein Geschenk überreicht –, dass er sie allein dafür liebte. Er betrachtete ihr glattes Haar, die frische Haut mit den Sommersprossen, das schlichte silberne Medaillon, das sie um den Hals trug. Es war ihm schon am Obststand aufgefallen, und neulich beim Abendessen. Offenbar nahm sie es niemals ab.
Dylan konnte nicht umhin, sich an eine andere Zeit zu erinnern, als er kaum ein Wort über die Lippen brachte, damals in Newport, kurz bevor die beiden starben; er war zu Hause unglücklich gewesen, hatte immerzu gegrübelt, was er tun sollte, hatte sich Sorgen gemacht, was aus Isabel werden würde, wenn er auszog. Amanda hatte ihre Entscheidung, sich von ihm zu trennen, noch nicht angekündigt, aber der Gedanke war ihm auch schon gekommen.
»Du erinnerst mich an etwas«, sagte er. »Nicht weil du ihr auch nur in irgendeiner Hinsicht gleichst, sondern weil du völlig anders bist …«
»Anders als wer?«
»Meine Frau.« Er wusste, dass er die Geschichte nicht preisgeben sollte; er wollte Amandas Andenken nicht in den Schmutz ziehen. Aber er war lange allein gewesen und ausgehungert nach der Wärme und Empfindsamkeit, die Jane ausstrahlte, so dass es ihm ein Bedürfnis war, sich eine Last von der Seele zu reden.
»Wir waren zum Abendessen im Haus ihrer Eltern eingeladen, und ihr Vater bat mich, einen Toast auszubringen. Ich sehe noch heute die illustren Gäste vor mir, die sich am Tisch versammelt hatten: gebräunt, mit Abendkleid und Schmuck behangen, die Männer im Anzug und mit schwarzer Krawatte. Ich stand auf, um mein Glas zu erheben … ich war damals todunglücklich. Wir beide, Amanda und ich. Wie sich herausstellte, bat sie mich noch im gleichen Monat um die Scheidung. Doch an jenem Abend empfand ich nur ein Gefühl des Bedauerns … die Sehnsucht nach etwas, das uns fehlte …«
»Aber du musstest einen bombastischen Trinkspruch ausbringen und deiner Rolle gerecht werden.«
Dylan nickte. »Ich hob also mein Glas und … nichts.«
»Nichts?«
»Funkstille. Ich wollte etwas Tiefgründiges von mir geben, brachte jedoch
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