Tanz im Mondlicht
Lymphknotengeschwulst«, schluchzte Sylvie. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen …«
»Das stehen wir gemeinsam durch«, sagte John, sie in den Armen wiegend. »Ich bin für dich da, jederzeit.«
Jane musterte ihn. Er trug eine kamelhaarfarbene Strickweste über einem blau-weiß karierten Hemd. Sein Haar begann sich zu lichten. Der Spitzbauch hinderte ihn daran, Sylvie so fest an sich zu pressen, wie er es sich offensichtlich wünschte. Seine Arme und Schultern waren verkrampft vor Anspannung und unterdrückter Leidenschaft. Der Anblick ihrer Schwester, zerbrechlich und blond, mit geschlossenen Augen und tränenüberströmt, die ungestüm von ihrem Kollegen umarmt wurde, weckte ein Gefühl der Wehmut und Einsamkeit in Jane.
Ihre Mutter lag auf der Intensivstation, kämpfte vermutlich um ihr Leben. Ihre Schwester hatte allem Anschein nach eine aufrichtige und liebevolle Beziehung zu einem Mann, der sie auf Händen trug. Und Jane baute ihr Leben auf einer Lüge auf, wie Sylvie gesagt hatte.
Sie war dabei, sich in jemanden zu verlieben, der keine Ahnung hatte, wer sie wirklich war und was sie bezweckte. Ihr ganzes Leben drehte sich um ein Mädchen, das um ihre leibliche Mutter trauerte und bei Adoptiveltern aufgewachsen war, die sie liebten.
»Hallo, Jane«, sagte John, als Sylvie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche hervorkramte.
»Hallo, John. Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Ich bin immer für Sylvie da. Und für Sie.« Er lächelte.
Jane erwiderte das Lächeln. Er verhielt sich so ungezwungen, als gehörte er bereits zur Familie. Das war gut. Jane freute sich für Sylvie. Ihr fiel ein, dass Dylan sie gebeten hatte, ihn anzurufen, aber die Benutzung von Handys war in der Klink verboten, wie ein Hinweisschild an der Wand besagte.
Sie überließ es ihrer Schwester und John, Wache zu halten, und ging nach unten, um einen Münzfernsprecher zu suchen.
Chloes Schulter schmerzte vom Gewicht der Bücher in ihrem Ranzen, doch sie waren Teil ihrer ausgeklügelten Strategie. Warum hatte sie sich nicht auf ein einziges Buch beschränkt? Sie wäre auch dann ungestraft davongekommen, wenn sie ihrer Mutter erzählt hätte, dass sie mit Mona Biologie-Hausaufgaben machen und die Taschenbuchausgabe von
Wildlife in the Estuary
mitnehmen würde.
Aber nein. Sie musste ein riesiges Brimborium machen und ihre Büchertasche vollpacken, bevor sie zur Tür hinauseilte und auf ihr Fahrrad stieg. Nur, statt links abzubiegen, auf die Straße, in der Mona wohnte, war sie geradeaus gefahren – durch Crofton hindurch, über die alte Granitbrücke, die über den Williams River führte, weiter nach Twin Rivers.
Chloe war sich nicht sicher, ob ihr Vorhaben gelingen würde, aber sie wusste genug, um es lieber außerhalb ihres Wohnorts zu probieren. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie den Hügel hinuntersauste, in Richtung Einkaufszentrum. Ihr Puls raste. Die Anspannung war so groß, als würde sie ein unheimliches Buch lesen – nur, dass die Geschichte ausgerechnet ihr passierte und der Ausgang ungewiss war.
Sie hatte Angst, schwanger zu sein.
Sie hatte Mona kein Sterbenswort verraten, hatte es sich nicht einmal selbst eingestanden. Seit dem Treffen auf der Plantage war erst eine Woche vergangen. Ihre Periode hatte sich noch nicht verspätet oder dergleichen. Trotzdem hatte sie das beklemmende Gefühl, als hätte sich ein fremder Keim in ihrem Körper eingenistet – unerwünscht, aufgenötigt, entstanden aus einer kondomlosen Ungeheuerlichkeit –, und sie musste sich Gewissheit verschaffen.
Alle Schwangerschaftstests warben mit Bezeichnungen wie »Früherkennung«, »Erster Gedanke« und »Auf der Stelle«. Das bedeutete wahrscheinlich, dass sie umgehend Ergebnisse zeigten – schon nach einer Woche. Natürlich konnte sie auf ihre Periode warten – die in ein paar Tagen fällig wäre –, aber das würde sie nicht aushalten. Sie musste es wissen,
auf der Stelle
.
Im Einkaufszentrum gab es einen großen Drogeriemarkt, aber sie hatte Angst, dort ihren Freunden aus Crofton über den Weg zu laufen. Deshalb fuhr sie daran vorbei, in den Altstadtbereich. In Twin Rivers hatte es früher Spinnereien gegeben, mit imposanten roten Backsteinfabriken, die teilweise in Eigentumswohnungen umgebaut worden waren, aber die meisten verfielen. Das Stadtzentrum sah öde aus: Es gab nur noch wenige Geschäfte, die noch dazu einen veralteten, heruntergekommenen, trostlosen Anblick boten. Ein Schreibwarenhändler, eine
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