Tanz im Mondlicht
missverstanden und gedacht, Chloe sei bedroht oder entführt worden, weil sie so geduckt auf dem Sitz gesessen hatte …
Vor allem aber dachte sie an Chloe. Sie stellte sich vor, wie es war, wenn man beim falschen Namen genannt und dazu verleitet wurde, einen Bach zu überqueren. Chloe hatte nein sagen wollen, dessen war sie sich sicher. Sie war so jung und war überzeugt davon gewesen, ihn zu lieben.
Grauzone
… Jane konnte gut nachfühlen, was sie durchgemacht hatte. Sie las die Gebrauchsanweisung, ihre Handflächen waren klamm. Die Fensterscheibe im Wagen war heruntergekurbelt; sie hörte einen Pirol in den Bäumen singen.
Gleich darauf vernahm sie Chloes Schritte. Die Autotür wurde geöffnet, dann geschlossen.
»Ich hätte Servietten mitnehmen sollen«, sagte Chloe, das weiße Stäbchen in der Hand.
»Ich wünschte, ich hätte Papiertücher dabei.«
»Ist schon in Ordnung.«
Jane holte tief Luft, schüttelte den Kopf.
»Rosa Ring für positiv, weißer Ring für negativ.« Chloe starrte das Stäbchen an.
»Wie lange dauert es?«, fragte Jane, obwohl sie die Gebrauchsanweisung gelesen hatte.
»Drei Minuten. Dann weiß ich, was los ist …«
Jane konnte nicht hinschauen. Sie saß wie auf heißen Kohlen. Die Jahre fielen von ihr ab. Sie erinnerte sich, wie sie in der Planned Parenthood Clinic in Providence gesessen und auf das Ergebnis der Urinprobe gewartet hatte, die sie gerade in einem Plastikbecher abgegeben hatte. Nun bohrte sie genau wie damals ihre Fingernägel in die Handflächen, so heftig, dass sie halbmondförmige Kerben in der Haut hinterließen.
Sie wusste, was sie sich wünschen sollte. Chloe war erst fünfzehn, fünf Jahre jünger als Jane damals. Sie hatte das Leben noch vor sich. Sie hatte Hoffnungen, Träume, ehrgeizige Ziele und Pläne, die der Verwirklichung harrten. Jane konnte sich nur wünschen, dass der weiße Ring erschien, dann würde sie Chloe nach Hause fahren und nicht mehr behelligen, damit sie ihr Leben ungehindert fortsetzen konnte.
Vielleicht war das alles eine Feuerprobe – wichtiger als die Frage, weißer Ring – rosa Ring. Ein Zeichen für Jane, dass Chloe mit fünfzehn ein eigenes Leben und eine Familie hatte, dass es besser war, sie in Ruhe zu lassen und ein für alle Mal von der Bildfläche zu verschwinden.
»Egal, was passiert«, sagte Chloe mit Blick auf das Stäbchen. »Ich werde nicht zulassen, dass aus dir ein Stern auf dem Dachboden wird.«
»Ein was?«
»Ein Stern auf dem Dachboden. Ein erloschener Stern – das Gegenteil von lebenden Sternen in den Bäumen. Neulich hatte ich einen schlimmen Traum. Ich war ein Stern, vom Himmel gefallen, und meine leibliche Mutter hat mich auf dem Dachboden verstaut, hat mich abgeschoben …«
»Warum hat sie das getan?«, flüsterte Jane entsetzt.
Chloe wandte den Blick von dem Stäbchen ab, blinzelte. »Weil ich ihr nichts bedeutet habe.«
»Das stimmt nicht«, sagte Jane. Als sie Chloes verwunderten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Egal«, sagte Chloe. »Das ist schon lange her.«
Die Worte hingen in der Luft. Janes Nerven lagen blank. Sie hatte das dringende Bedürfnis, Chloe die Wahrheit zu sagen, auf der Stelle. Sie wollte ihr erklären, wie es wirklich gewesen war, dass sie mehr war als ein Stern auf dem Dachboden – sie bedeutete ihr mehr als eine Galaxie, als das ganze Firmament. Es fiel ihr unendlich schwer, ihre Zunge im Zaum zu halten, aber sie sagte sich, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, dass Chloe zuerst die nächsten eineinhalb Minuten durchstehen musste.
Dann würde sie ihr die Wahrheit sagen.
Das würde die Atmosphäre bereinigen. Wenn sie Chloe die Wahrheit gesagt hatte, konnte sie auch Dylan ihre Identität offenbaren. Sie berührte das silberne Medaillon; es würde eine Erleichterung sein, der Heimlichtuerei ein Ende zu setzen. Sie würde diese beiden Menschen nicht mehr belügen müssen, die sie endlich kennen- – und lieben – gelernt hatte.
Denn Jane war nicht länger in das Bild vernarrt, das sie sich von Chloe gemacht hatte – von ihrer unbekannten Tochter –, sondern in das Mädchen aus Fleisch und Blut. Sie liebte ihre direkte Art, ihre wachen blauen Augen, ihre Schlagfertigkeit, ihren Humor, ihre Loyalität gegenüber Mona, ihr Engagement für die Natur und die Plantage, ihre Vorstellung von den Sternen. Jane betrachtete Chloes Hände – die gleiche Form wie ihre eigenen, die ihrer Schwester und ihrer Mutter –
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