Tanz mit dem Schafsmann
ruhiger, gleichmäßiger Wellengang. Sämtliche Surfer hatten aufgegeben und saßen rauchend am Strand. Von einer Feuerstelle, in der Müll verbrannte, stieg eine weiße Rauchsäule senkrecht zum Himmel empor, und links davon schimmerte die Insel Enoshima wie eine Fata Morgana. Ein großer schwarzer Hund trottete am Wellensaum hin und her. Am Horizont sah man einige Fischerboote, über denen Scharen von Seemöwen wie weiße Strudel kreisten. Auch auf dem Meer herrschte Frühlingsstimmung.
Wir gingen auf der Uferpromenade spazieren. Jogger und Schulmädchen auf Fahrrädern kamen uns entgegen, während wir Richtung Fujisawa schlenderten. Schließlich setzten wir uns an einer geeigneten Stelle in den Sand und schauten aufs Meer.
»Erlebst du das eigentlich öfter?«, fragte ich Yuki.
»Nicht so oft«, erwiderte sie. »Eher selten. Ich fühle nur manchmal. Es gibt nicht so viele Leute, mit denen es mir passiert. Nur ganz ganz wenige. Aber ich vermeide dieses Gefühl nach Möglichkeit. Oder zumindest versuche ich dann, nicht daran zu denken. Sobald sich das Gefühl einstellt, mache ich dicht. Meistens merke ich es. Wenn ich mich dagegen versperre, spüre ich es nicht so intensiv. Als würde man die Augen zumachen. Ich verschließe die Sinne. Dann wird es unsichtbar. Ich weiß, dass da etwas ist, sehe es aber nicht. Ich muss es dann nicht anschauen. Ähnlich wie bei Gruselszenen im Film, weißt du? Man kneift die Augen zu, bis sie vorbei sind.«
»Aber warum machst du dicht?«, wollte ich wissen.
»Weil es mir unangenehm ist«, sagte sie. »Früher, als ich klein war, habe ich mich nicht dagegen verschlossen. Sobald mich dieses Gefühl überkam, habe ich darüber gesprochen. Auch in der Schule. Aber den Leuten ist das zu unheimlich. Ich wittere zum Beispiel, dass sich jemand verletzen wird, und sage es den anderen. Und dann tritt es tatsächlich ein. Das ist ein paar Mal passiert, und seitdem bin ich als Poltergeist verschrien. Alle nennen mich ›Spuk‹ und tuscheln über mich. Das verletzt mich. Darum habe ich beschlossen, nie wieder darüber zu sprechen. Mit keinem Menschen. Sobald es sich ankündigt, mache ich dicht, sofort.«
»Aber bei mir hast du nicht dicht gemacht.«
Sie zuckte die Schultern. »Es kam so plötzlich. Ohne Vorzeichen. Urplötzlich tauchte es vor mir auf, wie ein Bild. Als ich dir das erste Mal begegnet bin, in der Hotelbar. Ich habe gerade Musik gehört … ich weiß nicht mehr, was … Duran Duran oder David Bowie. Ich war in dem Moment nicht gewappnet, sondern völlig relaxed. Deshalb mag ich Musik ja auch so.«
»Dann hast du also hellseherische Fähigkeiten?«, fragte ich sie. »Ich meine, du kannst zum Beispiel vorhersehen, dass jemand sich verletzt?«
»Ich weiß nicht so recht. Es ist noch ein bisschen anders. Ich weiß die Dinge nicht im Voraus, sondern spüre sie nur. Wenn etwas passiert, liegt es gewissermaßen in der Luft. Verstehst du? Jemand turnt zum Beispiel am Barren und verletzt sich dabei. Das geschieht entweder aus Unachtsamkeit, aus Selbstüberschätzung oder aus Übermut. Eine solche Stimmung überträgt sich dann als Schwingung auf mich. Ich bin äußerst sensibel dafür. Solche Gefühlswellen werden zu geballter Luft, und ich spüre die Gefahr, die darin lauert. Es taucht auf wie ein leerer Traum. Und sobald ich es sehe, passiert es. Es ist keine Hellseherei, sondern eher etwas ganz Verschwommenes. Aber es ist da. Ich nehme es wahr, aber ich spreche nicht mehr darüber. Sonst halten mich alle für verhext. Ich könnte zum Beispiel bei dem Typen da drüben denken, dass er sich verbrennen wird. Und dann geschieht es wirklich. Aber ich würde nichts sagen. Das ist doch schrecklich, oder? Ich hasse mich selbst dafür. Deshalb mache ich dicht. Dann brauche ich mich nämlich auch nicht dafür zu hassen.«
Sie nahm eine Hand voll Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln.
»Gibt es wirklich einen Schafsmann?«, fragte sie.
»Ja, er existiert wirklich«, sagte ich. »In dem Hotel gibt es einen Ort, wo er lebt. In dem Hotel befindet sich nämlich noch ein anderes Hotel. Normalerweise kann man es nicht sehen, aber es existiert immer noch. Eigens für mich. Ein Ort, der nur für mich bestimmt ist. Dort lebt der Schafsmann, um mich mit allen möglichen Dingen zu verbinden. Der Schafsmann ist dort um meinetwillen tätig. Wenn er nicht wäre, kämen die Verbindungen nicht zustande. Er arrangiert das für mich. Wie bei der Telefonvermittlung.«
»Verbindungen, sagst
Weitere Kostenlose Bücher