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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Geschichte mit dem Fahrstuhl, als ich plötzlich im Dunkeln stand?«, nahm sie das Gespräch wieder auf.
    »Ja«, erwiderte ich.
    »Es ist mir noch mal passiert.«
    Jetzt schwieg ich. Sie sagte auch nichts mehr. In der Leitung war wieder das weit entfernte Jammern zu hören. Von der anderen Person vernahm man lediglich hin und wieder knappe Bestätigungssignale – ein lahmes ah, hm, ähhm oder so ähnlich, kaum hörbar. Die wehleidige Stimme redete weiter, als stiege sie im Zeitlupentempo eine Leiter hoch. Sie redete wie eine Tote, dachte ich plötzlich. Eine Tote, die vom fernen Ende eines Korridors aus spricht. Als ob es ihr schwer fiele, tot zu sein.
    »Bist du noch dran?«, fragte Yumiyoshi.
    »Ja«, sagte ich. »Erzähl mir davon.«
    »Sag mir bitte zuerst: Hast du mir die Geschichte damals wirklich geglaubt oder nur so getan? Sei ehrlich.«
    »Ich glaube dir«, sagte ich. »Leider bin ich noch nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen, aber ich habe kurz danach das Gleiche erlebt. Ich habe den Fahrstuhl genommen und stand genau wie du im Stockdunkeln. Deshalb glaube ich dir aufs Wort.«
    »Du warst da?«
    »Davon erzähle ich dir später in Ruhe. Jetzt kann ich es nicht so gut erklären. Es sind noch so viele Dinge im Unklaren. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werde ich dir alles von Anfang bis Ende berichten. Deshalb müssen wir uns unbedingt wiedersehen. Aber jetzt erzähl mir von deinem Erlebnis. Es interessiert mich ungemein.«
    Sie antwortete nicht sofort. Das andere Gespräch war ebenfalls verstummt. In der Leitung herrschte Totenstille.
    »Ungefähr vor zehn Tagen«, begann sie, »bin ich mit dem Lift in die Parkgarage hinuntergefahren. Es war so gegen acht Uhr abends. Die Fahrstuhltür ging auf, und mit einem Mal befand ich mich wieder an diesem Ort. Genau wie damals. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Es war zwar nicht mitten in der Nacht und auch nicht in der sechzehnten Etage, aber es war wieder genauso dunkel, feucht und muffig. Der Geruch und die Luft, exakt das Gleiche. Diesmal habe ich mich nicht von der Stelle gerührt, sondern gewartet, bis der Fahrstuhl zurückkam. Es dauerte eine Ewigkeit. Als er endlich kam, stieg ich ein und fuhr wieder hoch. Das war alles.«
    »Hast du irgendjemandem davon erzählt?«
    »Nein, wo denkst du hin?« sagte sie. »Nach dem ersten Mal habe ich mir geschworen, nie wieder darüber zu sprechen.«
    »Gut so. Besser, du sagst es niemandem.«
    »Sag, was soll ich nur tun? Wenn ich mit dem Aufzug fahre, habe ich jetzt jedes Mal Angst, dass die Tür aufgeht und ich plötzlich im Dunkeln stehe. Und in einem so riesigen Hotel bin ich natürlich gezwungen, täglich mehrmals den Fahrstuhl zu benutzen. Kannst du mir nicht einen Rat geben? Ich habe sonst niemanden, mit dem ich darüber reden kann.«
    »Weshalb hast du dich denn nicht eher bei mir gemeldet? Dann hätte ich dir alles genau erklären können.«
    »Ich hab’s mehrmals probiert.« Ihre Stimme wurde zu einem Wispern. »Aber du warst nie da.«
    »Aber mein Anrufbeantworter war doch eingeschaltet.«
    »Ich mag da nicht draufsprechen. Es macht mich nervös.«
    »Verstehe. Tja, dann werde ich mal versuchen, dir das einigermaßen zu erklären. Die Finsternis da ist nichts Unheilvolles. Niemand will dir etwas Böses tun, du brauchst dich also nicht zu fürchten. Es gibt tatsächlich ein Wesen dort – du hast seine Schritte gehört, erinnerst du dich? –, aber es tut dir nichts. Es würde niemandem etwas zuleide tun. Also, wenn du das nächste Mal wieder im Dunkeln stehst, wartest du einfach mit geschlossenen Augen, bis der Fahrstuhl kommt, und entfernst dich wieder von dem Ort. Okay?«
    Yumiyoshi schien meine Worte erst verarbeiten zu müssen. Nach einer Weile sagte sie: »Darf ich ehrlich sagen, was ich denke?«
    »Nur zu.«
    »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Manchmal muss ich an dich denken. Aber dann weiß ich nie, was dein wahres Wesen ist.«
    »Kann ich gut verstehen«, erwiderte ich. »Weißt du, ich bin vierunddreißig, und trotz meines fortgeschrittenen Alters gibt es leider immer noch viel zu viele Ungereimtheiten in mir. Zu viele weiße Flecken auf der Landkarte meines Ichs. Ich bemühe mich, so gut ich kann, sie nach und nach auszufüllen. Hab noch ein bisschen Geduld, ich werde dir später alles genauer erklären. Dann werden wir uns gegenseitig besser verstehen können, hoffe ich.«
    »Schön wär’s«, sagte sie, als spräche sie von jemand anderem. In diesem

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