Tanz mit dem Schafsmann
begreifen. »Unsere Generation ist aus einem anderen Holz geschnitzt als ihr jungen Leute. Wir sind solche komplizierten Gedankengänge nicht gewohnt«, sagte er mit gequältem Lächeln. Ich konnte auch von mir nicht behaupten, dass mir diese Dinge geläufig waren, aber da ich befürchtete, die Konversation könnte sich noch weiter so hinschleppen, hielt ich vorsichtshalber den Mund. Nein, ich war nicht vertraut mit diesen Dingen. Ich war lediglich in der Lage, sie zu begreifen, zu akzeptieren. Zwischen diesen beiden Auffassungen gab es einen entscheidenden Unterschied. Doch ich ließ es dabei bewenden, aß mein Omelett auf und verabschiedete mich von dem Herrn.
Ich döste ein, und als ich nach einer halben Stunde wieder aufwachte, las ich während der restlichen Zugfahrt in der Jack-London-Biographie, die ich in einem Buchladen am Bahnhof in Hakodate erstanden hatte. Verglichen mit dem bewegten Leben dieses Schriftstellers wirkte meines verschlafen wie das eines Eichhörnchens, das in einer hohlen Eiche auf einer Walnuss dösend auf den Frühling wartete. Zumindest zeitweilig kam es mir so vor. Aber so sind Biographien nun einmal. Wer wäre denn auch am friedvollen Leben und Streben eines gewöhnlichen Angestellten der Stadtbücherei von Kawasaki interessiert? Kurzum, wir brauchen etwas zum Kompensieren.
In Sapporo angekommen, beschloss ich, einen gemütlichen Spaziergang zum Hotel zu machen. Es war ein windstiller, ruhiger Nachmittag, und ich hatte nur eine Schultertasche zu tragen. Die Luft war klirrend kalt. Am Straßenrand türmten sich schmuddelige Schneehaufen. Die Fußgänger kämpften sich durch den vereisten Matsch und achteten darauf, wo sie hintraten. Ein Schwarm Oberschülerinnen mit rosigen Wangen kam schnatternd vorbei; sie stießen Atemwölkchen aus, wie Sprechblasen. Ich schlenderte weiter und schaute mir das bunte Treiben an. Es war viereinhalb Jahre her, seit ich das letzte Mal in Sapporo gewesen war. Mir kam es viel länger vor.
Unterwegs machte ich Halt in einem Café und bestellte mir einen heißen, starken Kaffee mit Brandy. Alle Leute um mich herum gingen völlig selbstverständlich ihren Tätigkeiten nach, wie es sich in einer Stadt gehört. Liebespaare flüsterten miteinander, zwei Geschäftsmänner saßen über Zahlenkolonnen gebeugt, Studenten planten ihre nächsten Skiferien und diskutierten über das neue Police-Album. Wir hätten in irgendeiner japanischen Stadt sein können. Verlegte man diese Café-Szene nach Jokohama oder Fukuoka, es würde gar nicht auffallen. Trotzdem – oder gerade weil es überall gleich wirkte – fühlte ich mich schrecklich einsam, als ich in diesem Café vor meinem Getränk hockte. Ich war der einzige Außenseiter. Weder gehörte ich zu dieser Stadt noch zu diesem normalen Alltag.
Genauso wenig hatte ich natürlich in irgendeinem Café in Tokyo etwas verloren, aber dort fühlte ich mich nie so abgekapselt wie hier. Ich konnte meinen Kaffee trinken, ein Buch lesen, ganz normal meine Zeit verbringen, weil ich einfach, ohne groß nachdenken zu müssen, ein Teil des alltäglichen Lebens war.
Hier in Sapporo hingegen fühlte ich mich, wie gesagt, schrecklich isoliert. Ausgesetzt auf einer Polarinsel. Die Szenerie ist identisch. Egal wo ich bin, immer das gleiche Bild. Aber wenn ich unter die Oberfläche schaue, hat dieses Fleckchen Erde hier keine Verbindung zu anderen Orten, die ich kenne. So kommt es mir zumindest vor. Ähnlich, und doch ganz anders. Wie ein fremder Planet. Sprache, Kleidung, Mimik sind zwar wie bei uns, und doch stimmt etwas nicht. Ein Ort, an dem bestimmte Funktionen und Mechanismen überhaupt nicht gelten. Man muss sich praktisch jedes Mal aufs Neue vergewissern, welche nun Gültigkeit besitzen und welche nicht. Bei dem geringsten Faux pas würde sofort jeder merken, dass ich von einem anderen Stern komme. Sie würden sich erheben und mit dem Finger auf mich zeigen: Du bist anders. Dubistandersdubistandersdubistanders.
Gedankenverloren nippte ich an meinem Kaffee. Hirngespinste.
Es stimmte allerdings – ich war einsam. Mit niemandem verbunden. Das ist mein Problem. Ich gewinne mich mehr und mehr zurück. Aber ich bin mit niemandem verbunden.
Wann habe ich zuletzt ernsthaft einen Menschen geliebt?
Vor einer Ewigkeit. Zwischen einer Eiszeit und der nächsten. In einer fernen Vergangenheit. Vielleicht in der Jura-Periode. So lange mag das her sein. Und alles ist untergegangen. Dinosaurier, Mammuts, Säbelzahntiger. Auch die im
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