Tanz mit dem Schafsmann
Vader?
Am Tisch rechts, direkt neben ihnen, saß ein Mädchen von etwa zwölf, dreizehn Jahren. Sie hörte Walkman und schlürfte mit einem Strohhalm Limonade. Ein hübsches Kind. Ihr unnatürlich glattes, langes Haar floss seidig über die Tischplatte. Die langen Wimpern und die Klarheit ihrer Augen ließen sie verletzlich wirken. Die schlanken, langen Finger, die den Rhythmus der Musik mitklopften, waren noch das Kindlichste an ihr. Man konnte nicht sagen, dass sie sich wie eine Erwachsene gebärdete, doch irgendwie vermittelte sie den Eindruck von Überlegenheit. Als schaue sie auf alles herab. Aber nicht affektiert oder arrogant. Eher neutral. Als blicke sie aus dem Fenster auf die nächtliche Stadt.
Doch tatsächlich schaute sie nirgendwohin. Ihre Umgebung hatte sie offenbar völlig ausgeblendet. Sie trug Bluejeans, weiße Converse All Stars und ein hochgekrempeltes Sweatshirt mit der Aufschrift GENESIS. Ganz in ihre Musik versunken, bewegte sie hin und wieder kaum merklich die Lippen, die irgendwelche Textfragmente formten.
»Da drüben, das ist übrigens Limonade«, erklärte der Barkeeper wie zur Entschuldigung. »Das Mädchen wartet auf seine Mutter.«
»Hm«, brummte ich unverbindlich. Gewiss, nach zehn Uhr abends erwartet man in einer Hotelbar nicht unbedingt ein Schulmädchen, das vor einem Drink hockt und Walkman hört. Doch wenn der Barkeeper mich nicht eigens darauf hingewiesen hätte, wäre mir das gar nicht weiter aufgefallen. Auf mich wirkte ihre Anwesenheit ganz selbstverständlich.
Ich bestellte einen weiteren Drink und plauderte mit dem Barkeeper. Small Talk – über das Wetter, über die Aussicht und so weiter. Dann ließ ich ganz nebenbei die Bemerkung fallen, dass sich hier doch einiges geändert habe. Worauf der Barkeeper mit einem verlegenen Lächeln zugab, dass er noch bis vor kurzem in einem Hotel in Tokyo gearbeitet habe und Sapporo eigentlich kaum kenne. In dem Augenblick betrat ein neuer Gast die Bar und beendete unser fruchtloses Gespräch.
Ich trank im Ganzen vier Wodka-Soda. Es hätten gut und gerne noch einige mehr werden können, aber ich beschloss, es dabei zu belassen, und quittierte meine Rechnung. Das Mädchen saß noch immer da, verstöpselt mit ihrem Walkman. Ihre Mutter war nicht aufgetaucht. Die Eiswürfel im Glas waren bereits geschmolzen, was sie allerdings nicht zu stören schien. Als ich mich vom Barhocker erhob, blickte sie plötzlich auf und schaute mich ein paar Sekunden an. Dann lächelte sie. Oder vielleicht war es auch nur ein leises Zittern ihrer Lippen, aber auf mich wirkte es wie ein Lächeln. Ich muss zugeben – auch wenn es ungehörig klingen mag –, es ging mir durch und durch. Ich fühlte mich wie ein Auserwählter. Ein nie gekanntes Hochgefühl erfasste mich, und ich schwebte wie auf Wolken, einige Zentimeter gewachsen.
Noch ganz flatterig stieg ich in den Fahrstuhl und fuhr in den fünfzehnten Stock zu meinem Zimmer hinunter. Warum war ich eigentlich so aus dem Häuschen? Weil mich ein zwölfjähriges Mädchen angelächelt hatte? Sie könnte meine Tochter sein.
Und Genesis, was für ein hirnrissiger Name für eine Band.
Doch da das Mädchen diesen Schriftzug auf ihrem Sweatshirt trug, kam mir das Wort symbolisch vor. Ursprung.
Weshalb haben Rockbands eigentlich solche hochtrabenden Namen?
Ich ließ mich mit Schuhen aufs Bett fallen, schloss die Augen und dachte an das Mädchen. Walkman. Auf die Tischplatte trommelnde weiße Finger. Genesis. Geschmolzenes Eis. Ursprung.
Mit geschlossenen Augen spürte ich, wie der Alkohol in mir pulsierte. Ich zog Stiefel und Klamotten aus und kroch unter die Decke. Ich war viel müder und betrunkener, als ich gedacht hatte. Gleich würde das Mädchen neben mir sagen: »Na, wir haben wohl ein bisschen zu viel gesüffelt.« Doch niemand sprach mit mir. Ich war allein.
Ursprung.
Ich griff zur Nachttischlampe und schaltete das Licht aus. Würden mich meine Träume ins Hotel Delfin entführen? fragte ich mich im Dunkeln. Doch ich schlief traumlos. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, verspürte ich eine entsetzliche Leere. Null – keine Träume, kein Hotel. Totaler Fehlschlag: Ich tat das Falsche am falschen Ort.
Meine Stiefel lagen am Bett, wo ich sie hatte fallen lassen. Wie zwei dösende Welpen. Vor meinem Fenster hingen graue Wolken. Zu allem Überfluss jetzt auch noch Schnee. Der trostlose Himmel passte zu meiner Lustlosigkeit. Es war fünf nach sieben. Vom Bett aus betätigte ich die Fernbedienung
Weitere Kostenlose Bücher