Tanz mit dem Schafsmann
meinem Kopf war ich wie gelähmt. Gelähmt und erstarrt.
Erstarrt.
»Du solltest jetzt besser gehen«, sagte der Schafsmann. »Du würdest sonst hier erfrieren. Wir können uns ja zwischendurch wieder treffen. Falls du mich brauchst. Ich bin immer hier und warte auf dich.«
Mit schleppenden Schritten geleitete mich der Schafsmann bis zur Biegung des Korridors. Schlurf … schlurf … schlurf. Dort sagte ich ihm Auf Wiedersehen. Weder ein Händeschütteln noch ein Abschiedsgruß. Nur ein schlichtes Auf Wiedersehen. Wir trennten uns in der Finsternis. Er kehrte in sein Kabuff zurück, und ich ging zum Fahrstuhl. Als ich den Knopf drückte, setzte sich die Kabine langsam in Bewegung. Die Tür glitt lautlos auf. Helles, sanftes Licht drang in den Korridor und hüllte mich ein. Ich trat in die Kabine, lehnte mich an die Wand und blieb reglos stehen. Auch als die Tür wieder aufglitt, rührte ich mich nicht von der Stelle.
Los doch, sagte ich mir. Aber nichts geschah. Ich befand mich in einem riesigen Gedankenvakuum. Wohin ich mich auch begab, überall herrschte gähnende Leere. Ich stieß jedesmal auf nichts. Ich war ausgelaugt und verängstigt, wie der Schafsmann gesagt hatte. Und mutterseelenallein. Wie ein Kind, das sich im Wald verlaufen hat.
Tanzen, hatte der Schafsmann gesagt.
Tanzen, echote es in meinen Gedanken.
Tanze, wiederholte ich laut.
Dann drückte ich auf den Knopf für die 15. Etage.
Als der Aufzug dort hielt, empfingen mich die Deckenlautsprecher mit Henry Mancinis Moon River. Die reale Welt – eine Welt, in der ich wahrscheinlich nicht glücklich werden kann, in der es keinen richtigen Platz für mich gibt.
Mechanisch warf ich einen Blick auf die Armbanduhr. Die Zeit meiner Rückkehr war 03:20. Also dann, sagte ich mir. Alsodannalsodannalsodannalsodannalsodannalsodannalsodann …, hallte es in mir. Ich seufzte.
12
Als ich in mein Zimmer kam, nahm ich erst einmal ein heißes Bad. Langsam ließ ich meinen nackten Körper ins Wasser gleiten. Doch mir wurde einfach nicht warm. Mein Körper war völlig unterkühlt, bis auf die Knochen. Im heißen Wasser fröstelte ich noch mehr. Ich beschloss, so lange drin zu bleiben, bis der Schüttelfrost aufhörte, aber vom heißen Dampf wurde ich ganz benommen, also stieg ich aus der Wanne. Ich presste die Stirn gegen die Fensterscheibe, um sie ein wenig zu kühlen, und goss mir dann einen Brandy ein, den ich in einem Zug hinunterkippte. Dann legte ich mich ins Bett. Ich wollte ohne den geringsten Gedanken eindösen, aber das klappte leider nicht. Ich konnte einfach nicht einschlafen. Mit erstarrtem Bewusstsein lag ich im Bett und wälzte mich hin und her, bis der Tag anbrach. Ein trüber, grauer Morgen. Es schneite zwar nicht, aber am Himmel hing eine dichte Wolkendecke, die jeden Winkel der Stadt mit einem trostlosen Grau überzog. In meinen Augen spiegelte sich nur Grau. Erbärmliche Seelen in einer erbärmlichen Stadt. Es waren keine Gedanken, die mich wachhielten. Ich dachte eigentlich an gar nichts. Dazu war ich viel zu müde, und trotzdem konnte ich nicht schlafen. Mein Körper und ein Großteil meiner Seele schrieen förmlich nach Schlaf, aber der Rest meines erstarrten Geistes widersetzte sich dem hartnäckig. Dadurch war ich ganz aufgeputscht. Hochgradig nervös, als würde man versuchen, Stationsschilder aus dem Fenster eines mörderisch dahinrasenden Zuges zu lesen. Der Bahnhof kommt näher … du willst den Namen erhaschen, strengst deine Augen an – doch vergeblich. Die Geschwindigkeit ist zu hoch. Die Buchstaben sind nur verschwommen zu erkennen. Sie lassen sich nicht entziffern. Und dann sind sie auch schon wieder außer Sicht. So geht das endlos weiter, bei jedem Bahnhof aufs Neue, an unbekannten, entlegenen Stationen. Das Warnsignal ertönt mehrmals. Ein schrilles hohes Pfeifen, das wie eine Wespe in mein Bewusstsein sticht.
Das zog sich bis neun Uhr hin. Dann hatte ich die Nase voll und stand auf. Es hatte keinen Zweck, ich konnte einfach nicht schlafen. Ich ging ins Bad und rasierte mich, doch dabei musste ich mir die ganze Zeit soufflieren: Ich rasiere mich jetzt. Dann zog ich mich an, bürstete mir die Haare und ging ins Hotelrestaurant, um zu frühstücken. Ich setzte mich ans Fenster und bestellte ein Continental Breakfast, trank zwei Tassen Kaffee und kaute lustlos auf einer Scheibe Toast herum. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich sie aufgegessen hatte. Der triste Himmel färbte sogar den Toast grau, der nach Staubflocken schmeckte.
Weitere Kostenlose Bücher