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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sag’s ja, du wirkst vertrauenerweckend.«
    »Hm, ich fange langsam an, daran zu glauben. Komischerweise bin ich selbst ganz entspannt, wenn ich diese Rollen verkörpere. Ich hätte mich wohl besser für den Beruf des Arztes oder Lehrers entscheiden sollen. Vielleicht würde ich dann ein glücklicheres Leben führen. Es wäre übrigens gar nicht so unwahrscheinlich gewesen, wenn ich nur gewollt hätte.«
    »Bist du denn jetzt nicht glücklich?«
    »Schwierige Frage«, sagte Gotanda. Diesmal legte er seinen Zeigefinger auf die Stirnmitte. »Es hat mit diesem Vertrauen zu tun, das du angesprochen hast. Ich weiß nämlich nicht, ob ich mir selbst trauen kann. Die Zuschauer nehmen mir das ab. Aber das ist ein Trugbild. Bloß ein Image. Ein Knopfdruck, und schon ist das Bild weg. Und ich bin ausgelöscht. Stimmt doch, oder?«
    »Wenn ich ein echter Arzt oder Lehrer wäre, könnte man meine Identität nicht mit einem Knopfdruck löschen. Ich würde ich bleiben.«
    »Na ja, aber auch als Schauspieler bist du stets präsent«, wandte ich ein.
    »Manchmal bin ich einfach nur erschöpft«, sagte Gotanda. »Entsetzlich müde. Der Kopf tut mir weh, und ich fühle mich ganz aufgelöst. Dann frage ich mich, wer bin ich und was ist meine Maske? Manchmal verliere ich mich total aus dem Blick. Die Grenzlinie zwischen Ich und Schatten ist dann völlig verwischt.«
    »Dieses Gefühl kennt jeder mehr oder weniger. Das geht nicht nur dir so«, tröstete ich ihn.
    »Das ist mir klar. Jeder fühlt sich zuweilen verloren. Doch bei mir nimmt diese Neigung einfach überhand. Es ist irgendwie fatal. Das war schon immer so, seit ich denken kann. Um ehrlich zu sein, ich habe dich immer beneidet.«
    »Mich?«, fragte ich ungläubig. »Auf was solltest du bei mir neidisch gewesen sein? Das kapiere ich nicht.«
    »Tja, wie soll ich sagen … Du schienst immer das zu machen, was dir gefällt. Als würde es dich überhaupt nicht kümmern, wie andere Leute dich beurteilen. Du hast einfach unbeirrt deinen Kram gemacht. Schienst dich immer fest im Griff zu haben.« Er hob sein Glas und schaute hindurch. »Ich hingegen war immer der Musterknabe. Von Kindesbeinen an. Hervorragende Noten. Allseits beliebt. Blendendes Aussehen. Auch Lehrer und Eltern setzten ihr Vertrauen in mich. Ich war immer der Klassensprecher. Sportlich. Beim Baseball machte ich ausnahmslos Superschläge. Ich weiß auch nicht, warum, aber es waren immer Treffer. Schwer vorzustellen, wie ich mich gefühlt habe, was?«
    »Allerdings«, sagte ich.
    »Bei Baseballmeisterschaften wollten mich alle in ihrer Mannschaft haben. Ich konnte nie ablehnen. Auch bei Redewettbewerben durfte ich nicht fehlen. Die Lehrer haben mir zugeredet. Und jedes Mal habe ich gewonnen. Der Wahl zum Schulsprecher konnte ich ebenfalls nicht fernbleiben. Alle setzten auf mich. Bei Klassenarbeiten wusste jeder im Voraus, dass ich gut abschneiden würde. Tauchten im Unterricht schwierige Fragen auf, nahmen die Lehrer meistens mich dran. Ich bin nicht ein einziges Mal zu spät gekommen. Als hätte ich gar keine eigene Persönlichkeit. Ich tat nur immer das, was von mir erwartet wurde, was mir angemessen schien. Auf dem Gymnasium war es das Gleiche. Du bist ja auf eine staatliche Oberschule gegangen. Ich war auf einer renommierten Privatschule. Ich bin dort in die Fußballmannschaft eingetreten. Die war ziemlich stark. Wir standen kurz davor, zur Nationalmannschaft aufzusteigen. Es lief also bei mir wie an der Mittelschule. Ein Musterschüler. Gute Leistungen, Sportskanone und Führungsqualitäten. Ich war der Schwarm aller Mädchen vom Lyzeum nebenan. Mit einer bin ich gegangen. Sie war sehr hübsch. Kam immer zu den Fußballspielen, da haben wir uns kennen gelernt. Aber wir haben’s nicht gemacht, nur Petting. Wir sind zu ihr gegangen, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren. Hektische Fummelei. Hat trotzdem Spaß gemacht. Unsere Rendezvous fanden in der Bibliothek statt. Eine Oberschulzeit wie im Bilderbuch. Im Stil von Jugendserien im staatlichen Fernsehen.«
    Gotanda nahm einen Schluck Whiskey und schüttelte den Kopf.
    »An der Uni sah es dann ein bisschen anders aus, es war die Zeit der Studentenunruhen. Die allgemeine studentische Kampffront. Und ehe ich mich’s versah, war ich wieder Anführer. Immer, wo irgendetwas in Bewegung geriet, hatte ich die Rolle des Leithammels. Ich errichtete Barrikaden, lebte mit zig Mädchen in wilder Ehe, rauchte Joints und hörte Deep Purple. Also das, was damals alle

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