Tanz mit mir - Roman
und sie auf Knien um Privatunterricht anflehten. In diesen Tanz wurde einfach zu viel hineingedeutet. Jeder noch so kleinste Zweifel wurde in der Tanzstunde spürbar, jede noch so kleinste Spannung; jedes Stolpern wurde gleich als »ein Omen« bezeichnet. Mehrere Pärchen waren drei Unterrichtsstunden lang zu ihr gekommen, um danach dann seltsamerweise nie wieder aufzutauchen, um die letzten Tanzstunden zu nehmen. Tränen, Vorwürfe, wenig schmeichelhafte Vergleiche mit Müttern und Vätern – Angelica hatte all das schon gesehen und gehört.
Ihre eigene romantische Vergangenheit war so eng mit ihren Tanzpartnern verbunden, dass es unmöglich war, sie zu entwirren – was ein Fehler gewesen war, wie sie rückblickend feststellte.
Sie betrachtete die CD in ihrer Hand: Victor Silvester. Dies weckte alte Erinnerungen – Erinnerungen an den starren, verkniffenen Bernard und seinen Frack. Sie fragte sich, wie es ihr wohl ergangen wäre, wenn sie bei ihm geblieben wäre. Wahrscheinlich würde sie nun in einer Doppelhaushälfte in Bromley leben und hätte Enkel sowie furchtbar schmerzende Füße.
Angelica stand auf und schlug das zweite Fotoalbum ihrer Mutter auf, das nun im Bücherregal im Wohnzimmer seinen Platz gefunden hatte. Es umfasste die Amateurjahre in London, in denen sich Bernard und sie Stück für Stück über zahllose Wettbewerbe die Karriereleiter hinaufgearbeitet hatten.
Bernard war ein lieber Kerl, dachte sie, als sie sich den steifen schwarzen Albumseiten zuwandte. Er hatte Segelohren, dafür aber eine wundervolle Körperhaltung gehabt. Ihr erster Tanzlehrer in London, Jarvis Carmichael, hatte sie als Tanzpartner zusammengebracht, obwohl Bernard »vom Land kam«. Jarvis war arrogant gewesen, doch sie hatten hart gearbeitet, um ihm zu beweisen, dass die Art der Herkunft rein gar nichts zu bedeuten hatte.
Angelica betrachtete die Bilder mit einem traurigen Lächeln. Bernard war ein Tänzer der alten Schule. Der Walzer war immer ihr bester Tanz gewesen, dicht gefolgt vom Quickstepp und dem Foxtrott – den Tänzen, bei denen sich Bernard vorgestellt hatte, er sei Vernon Castle. Er war ein wenig fanatisch, was diesen erfolgreichen Turniertänzer des frühen zwanzigsten Jahrhunderts anbetraf. Zwar konnte man auf den Schwarz-Weiß-Fotos nicht erkennen, dass ihm der Hemdkragen einen Hautausschlag beschert hatte, dafür glänzte aber die Pomade in seinem Haar umso mehr. Was das betraf, stand Angelica ihm in nichts nach.
Damals war auch Angelica nicht nur recht altmodisch gewesen, sondern hatte dazu auch noch ein wahres Milchgesicht gehabt. Ihre Kleider bestanden aus einem steifen, starren
Petticoat, waren mit Flitter besetzt, und die Taille war winzig. Beim Anblick ihres Make-ups wäre selbst Diana Ross vor Neid erblasst: Der dicke, geschwungene Eyeliner und der zarte, perlmuttfarbene Lippenstift ließen Angelica in ihrem pinkfarbenen Abendkleid aus einem Traum von Tüll wie Kleopatra aussehen. Das Make-up musste natürlich so aufgetragen werden, dass es bei einem Wettbewerb auch von den hinteren Sitzreihen aus gesehen werden konnte. Doch damals trug Angelica genau die gleiche Menge Eyeliner selbst dann auf, wenn sie einfach nur einkaufen ging.
Bernard und sie waren ein sehr elegantes Paar gewesen, das eine ganze Reihe von Wettbewerben gewonnen hatte – doch irgendetwas fehlte. Als sie nun die Fotos studierte, die sie seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte, konnte Angelica eines ganz deutlich erkennen. Bernard war sehr zurückhaltend und still und verfügte über die würdevolle Haltung eines hervorragenden Turniertänzers. Doch im Gegensatz zu ihm strahlte sie eine immense Rastlosigkeit und unbändige Bewegungsfreude aus, selbst wenn sie still stand und sie beide die Füße für Porträtfotos anmutig in Pose gebracht hatten. Sie musste sich einfach bewegen – sich allein bewegen, ohne dabei geführt zu werden.
Es war keine besonders große Überraschung, dass sie sich, kaum dass sie sich kennengelernt hatten, Hals über Kopf in Tony Canero verliebte. Es geschah bei ihrem ersten Cha-Cha-Cha-Training in einem Studio in Soho, das ihr einer ihrer neuen Londoner Freunde empfohlen hatte. Genauer gesagt geschah es bei einer Hebefigur, die, wie sie später herausfand, bei Wettbewerben nicht erlaubt war, ihr aber das Blut durch den Körper schießen ließ, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. In den Kreisen, in denen sie sich bewegte, redete man schon über Tony und sein
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