Tanz, Pueppchen, Tanz
Bitte«, sagt sie, streckt die Hand aus und legt sie auf Amandas, die gerade nach dem Türknauf greift. »Bitte, Mandy.«
Der Name tropft von den Lippen der fremden Frau auf Amandas Haut wie Säure, brennt sich tief unter die Haut und in ihr Gehirn, während das begleitende Zischen alle anderen Geräusche überdeckt. Irgendwo in der Ferne hört Amanda Bens Stimme. »Wir melden uns wieder«, sagt er, wenn sie ihn richtig verstanden hat.
Bitte, Mandy.
Irgendwo weit entfernt geht eine Tür zu und eine andere auf.
Bitte, Mandy.
»Alles in Ordnung?«, fragt irgendjemand.
»Alles bestens«, antwortet jemand anderer.
»Ganz sicher?« Die Stimme klingt lauter und näher.
»Was?«
Bitte, Mandy.
»Ich habe dich gefragt, ob es dir gut geht«, sagt Ben.
Amanda wird wie von einem Gummiband in die Gegenwart zurückgerissen. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?«, fragt sie, betritt den eben eingetroffenen Fahrstuhl und drückt auf den Knopf für die Lobby. »Bloß weil ich eben erfahren habe, dass die einzig nette Erinnerung, die ich an meine Mutter habe, gar nicht von meiner Mutter handelt, sondern von meinem Babysitter? Dem blöden Mädchen von nebenan, das überdies bloß den Ex-Mann meiner Mutter gevögelt hat.«
»Klingt aber nicht nach alles bestens«, sagt Ben.
»Mir geht es gut.«
»Verdammt noch mal gut oder bloß gut?«
Sie lächelt. »Alles okay, Ben. Spätestens, nachdem ich etwas gegessen habe.«
»Okay, warum essen wir dann nicht irgendwo zu Abend? Und versuchen, unseren nächsten Schritt zu planen.«
»Meinst du, wir haben noch welche in petto?«
Er zuckt die Achseln, und im selben Moment beginnt sein Handy zu klingeln.
»Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit«, wiederholt Amanda staunend, während er das Gespräch annimmt. »Das ist vermutlich ein ebenso gutes Mordmotiv wie jedes andere.«
»Hi«, sagt Ben und beugt sich ein wenig von ihr weg, sodass sie weiß, dass es Jennifer ist, noch bevor sie das Echo der Stimme der anderen Frau vernimmt. »Was? Wann ist das passiert?«
»Was ist los?«, fragt Amanda, alarmiert von seinem veränderten Tonfall.
»Ist sie okay?«
»Ist wer okay?«
»Alles klar … Ja. Danke. Wirklich nett von dir … Selbstverständlich. Ich ruf dich später an.«
»Was ist denn los?«, fragt Amanda Ben, während er das Handy wieder in der Innentasche seiner Lederjacke verstaut.
»Deine Mutter hat versucht, sich umzubringen«, sagt er leise ohne jede weitere Ausschmückung.
»Was? Wie?«
»Offenbar hat sie einen Haufen Tabletten geschluckt.«
»Tabletten? Woher hatte sie denn Tabletten?«
»Ich weiß es nicht. Man hat sie ins Etobicoke General Hospital gebracht.«
»Können wir sie besuchen?«
Der Fahrstuhl öffnet sich, und Ben führt Amanda durch die Lobby. »Wir können es versuchen.«
30
Mittlerweile kommt mir die Fahrt an den westlichen Rand der Stadt so vertraut vor, dass ich im Schlaf dorthin finden würde, denkt Amanda, obwohl sie bezweifelt, dass sie je wieder schlafen wird. Ihr Kopf fühlt sich an wie ein Glaskrug voll alter Münzen – sperrig und schwer, zerbrechlich und von zweifelhaftem Wert. Gedanken klimpern wie Pennys durch ihr Gehirn und rollen durch ihr Gesichtsfeld: Ihre Mutter ist verrückt/ihre Mutter stirbt; ihre Mutter hat einen Wildfremden erschossen/sie hat ihren Ex-Mann erschossen; Hayley Mallins ist das sprichwörtliche Mädchen von nebenan/das Mädchen von nebenan hat vom ersten Tag an alle belogen.
Wie also kommt Amanda darauf, dass sie jetzt die Wahrheit sagt?
Amanda starrt durch das Fenster in die Dunkelheit und konzentriert ihre ganze Aufmerksamkeit auf die neuen Wohnblocks, die am Ufer des Sees wie Pilze aus dem Boden sprießen. In den letzten acht Jahren ist so viel mit der Stadt geschehen, denkt sie in dem angestrengten Bemühen, alles andere auszublenden. Wenn sie ihr Visier öffnet und irgendetwas anderes als den dunklen Himmel, die hellen Lichter, den Verkehr und die scheinbar endlosen Baustellen auch nur für einen Moment in ihre Gedanken lässt, wird ihr Kopf garantiert implodieren.
Ihre Mutter hat einen Haufen Tabletten geschluckt. Warum? Woher hatte sie sie? Was hat sie dazu getrieben?
»Jede Menge neue Gebäude«, sagt sie unnatürlich laut, als wollte sie ihre unerwünschten Grübeleien verscheuchen.
»Die Stadt wächst einfach immer weiter«, erwidert Ben ebenso dröhnend, als würde er unter ähnlichen Symptomen leiden.
Glaubst du, dass meine Mutter durchkommen wird?
»Glaubst du, dass dieses ganze
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