Tanz, Pueppchen, Tanz
Umständen hätte man Amanda Travis und Derek Clemens für Geschwister halten können, vielleicht sogar für Zwillinge.
Amanda schüttelt den unschönen Gedanken ab, wie immer froh darüber, ein Einzelkind zu sein. Sie dreht sich auf ihrem Stuhl um und blickte zu der langen Fensterfront auf der Rückseite des Gerichtssaals. Draußen ist es ein typischer Februartag in Südflorida – der Himmel türkisfarben, die Luft warm, der Strand eine Versuchung. Sie unterdrückt den Impuls, aufzustehen, den Kopf an die getönten Scheiben zu lehnen und über den Intercoastal Waterway hinweg auf den Ozean zu blicken. Nur in Palm Beach konnte es der Meerblick aus einem Gerichtssaal mit der Aussicht aus dem Penthouse eines Top-Hotels aufnehmen.
Perverserweise sitzt Amanda lieber hier im Gerichtssaal 5C des Palm Beach County Court House neben irgendeinem asozialen Abschaum, der der Körperverletzung sowie der massiven Bedrohung und sexuellen Nötigung seiner bei ihm lebenden Freundin beschuldigt wird, als neben einem zu leicht bekleideten, überfütterten Schneevogel auf dem kühlen Sand in der Sonne zu liegen. Ein paar Minuten auf dem Rücken, die nackten Füße von der Brandung umspült, reichen Amanda Travis meistens, bis sie sich wieder nach dem heißen Pflaster des Bürgersteigs sehnt.
»Ich würde die Ereignisse vom Vormittag des 16. August gern noch einmal Schritt für Schritt durchgehen, Miss Fletcher«, sagt der stellvertretenden Distriktstaatsanwalt, und seine tiefe Baritonstimme lenkt Amandas Aufmerksamkeit so unverzüglich auf die Geschehnisse im Gerichtssaal zurück wie das verführerische Seufzen eines Geliebten.
Caroline Fletcher nickt und spielt weiter an ihren zu stark gebleichten Haaren herum, während ihr chirurgisch vergrößerter Busen die Knöpfe ihrer lächerlich konservativen blauen Bluse zu sprengen droht. Es hilft dem Angeklagten, dass die Frau, die verletzt und gedemütigt zu haben man ihn beschuldigt, aussieht wie eine Stripperin, obwohl sie tatsächlich in einem Frisörsalon arbeitet. Amanda lächelt in dem Wissen, dass das weniger wichtig ist als das projizierte Bild. Vor Gericht wie in so vielen anderen Bereichen des Lebens zählt die Erscheinung weit mehr als die Substanz. Es ist schließlich der Anschein von Gerechtigkeit, nicht Gerechtigkeit an sich, den es zu verwirklichen gilt.
»Der 16. August?« Die Frau schiebt mit der Zunge das Kaugummi, auf dem sie seit Beginn ihrer Zeugenaussage kaut, auf die Seite.
»Der Tag des Angriffs«, erinnert der Ankläger sie, geht auf den Zeugenstand zu und baut sich vor seiner Starzeugin auf. Tyrone King ist knapp einsachtzig groß, mit schokoladenbrauner Haut und rasiertem Schädel. Als Amanda vor gut einem Jahr in die Kanzlei von Beatty und Rowe eingetreten ist, drangen Gerüchte an ihr Ohr, der attraktive stellvertretende Distriktstaatsanwalt wäre ein Neffe von Martin Luther King, aber als sie ihn danach fragte, erwiderte er lachend, dass man allen Schwarzen mit dem Nachnamen King nachsagte, mit dem ermordeten Bürgerrechtler verwandt zu sein. »Sie haben ausgesagt, dass der Angeklagte schlecht gelaunt von der Arbeit nach Hause gekommen ist.«
»Er war immer schlecht gelaunt.«
Amanda steht halb von ihrem Stuhl auf und erhebt Einspruch gegen diese Verallgemeinerung. Dem Einspruch wird stattgegeben. Die Zeugin zupft fester an ihren Haaren.
»Wie hat sich diese Laune manifestiert?«
Die Zeugin sieht ihn verwirrt an.
»Ist er laut geworden? Hat er gebrüllt?«
»Sein Boss hat ihn angebrüllt, also hat er zu Hause mich angebrüllt.«
»Einspruch.«
»Stattgegeben.«
»Warum hat er gebrüllt?«
Die Zeugin verdreht die Augen zu der hohen Decke. »Er hat gesagt, es würde aussehen wie in einem Saustall und dass nie was zu essen im Haus wäre und dass er die Schnauze voll hätte, nach der Nachtschicht in eine unaufgeräumte Wohnung zu kommen, in der es kein Frühstück gibt.«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Ich habe gesagt, ich hätte keine Zeit, mir seine Beschwerden anzuhören, weil ich zur Arbeit musste. Und dann sagte er, dass es überhaupt nicht in Frage käme, dass ich ausgehen und ihn den ganzen Tag mit dem Baby allein lassen würde, weil er seinen Schlaf brauchte, und ich hab ihm gesagt, dass ich das Baby ja wohl schlecht mit in den Frisörsalon nehmen könnte und immer so weiter.«
»Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?«.
Die Zeugin zuckt die Achseln und schiebt das Kaugummi mit der Zunge nervös von einer Wange zur anderen. »
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