Tanz unter Sternen
Strohmatratzen heran und verwandelte den Raum in einen Schlafsaal, der sich rasch mit Menschen füllte. »Bleiben Sie bitte hier, wir verteilen gleich eine warme Mahlzeit«, erklärte ein Steward. »Anschließend richten wir in der Bibliothek und im Rauchsalon weitere Schlafplätze ein.«
Die Bordärzte gingen von einem zum anderen und untersuchten erfrorene Gliedmaßen. Sie bandagierten Füße, flößten Arzneimittel ein und ließen die Verletzten oder völlig Ermatteten aus dem Saal tragen. Als ein Arzt zu ihr und Matheus kam und ihre Füße untersuchte, sagte der Pastor: »Ich hab mich immer vor mikroskopisch kleinen Tierchen gefürchtet, die wir mit der Atemluft in uns aufnehmen. Ich hatte Angst, dass sie meine Lunge bevölkern, wissen Sie? Vor so vielem hatte ich Angst, vor Tieren in den Augen, vor Knochenkrankheiten, vor schleichendem Fieber. Und jetzt, wo ich beinahe ertrunken wäre, fühle ich mich plötzlich gesund.«
Der Arzt lächelte und nickte.
Als er weitergegangen war, blickte Matheus sich unruhig um. Sein suchender Blick tat ihr weh, sie wusste, was er bedeutete: Er vermisste seine Frau. Nele hatte ihn aus dem Wasser gefischt, sie hatte ihn gestützt, als er im Boot vor Schwäche nicht stehen konnte, und er hatte ihr mit einem Händedruck gedankt, einem Händedruck, der die ganze Nacht dauerte. Warum fehlte ihm jetzt Cäcilie? Sollte sie doch mit ihrem Engländer davonlaufen! Nele spürte eine Verbundenheit zwischen sich und Matheus, die sie wie ein Wunder anmutete. Sie waren gemeinsam in den Tod gegangen und hatten gemeinsam das Leben wiedergefunden. Nichts sollte sie wieder voneinander trennen.
Neue Ankömmlinge wurden hereingeführt. Nele sah Matheus erstarren. Eine Frau schrie wie am Spieß. Man wollte ihr das Kind abnehmen, dass sie im Arm trug, aber sie wehrte sich und klammerte sich an den Jungen, und selbst, als man sie in Ruhe ließ, schluchzte sie noch und drückte den Jungen an sich. Cäcilie.
Matheus stand auf. Seine Hände zitterten. Mit kleinen Schritten ging er zu ihr. Nele verstand, weshalb ihn der Anblick mit Grauen erfüllte: Das war sein Junge, Samuel, und man wollte ihn Cäcilie wegnehmen, weil ihm der Kopf leblos herunterhing.
Während alle anderen in den Sälen auf dem Boden schlafen mussten, gehörte Nele zu den Glücklichen, die ein Bett zugewiesen bekamen. Aber obwohl sie übermüdet war, fand sie in der stickigen Kabine keine Ruhe. Ständig hatte sie vor Augen, wie Matheus und Cäcilie sich in den Armen lagen, eine gemeinsame Decke über die Schultern gebreitet, und sich gegenseitig mit zärtlichen Fingern die Tränen von den Gesichtern wischten. Der Verlust ihres Kindes hatte eine neue Nähe zwischen ihnen hergestellt. Das zu sehen, hatte sie nicht lange ausgehalten und war schlafen gegangen – nur war ihr auch das Schlafen vergällt.
Sie hatte den Kleinen gern gehabt und verstand die Trauer der beiden. Zugleich fühlte sie sich von Matheus verraten, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten.
Nele schlug die Decke auf, erhob sich und schlüpfte leise in ihre Sachen. Sie ging nach oben an Deck. Halb neun sei es, antwortete ein Mann auf ihre Frage nach der Uhrzeit. Sie war müde, als wäre es mitten in der Nacht, dabei war der Vormittag gerade erst angebrochen. Den teuren Mantel, den ihr eine Passagierin der Carpathia geliehen hatte, schlang sie eng um sich gegen die Kälte. Trotz des Sonnenscheins fror sie.
Unter den Frauen, Kindern und Männern, die an der Reling standen, herrschte eine seltsame Stille. Erst begriff sie nicht, was es war, das sie alle hatte verstummen lassen. Dann aber sah sie, dass gerade die Überlebenden des letzten Rettungsbootes hinaufgehievt wurden. Das Meer war leergefegt, es kam kein weiteres Boot. War der Ehemann, die Tochter oder die Schwester bisher nicht an Bord, wusste man nun, sie würden niemals kommen. Viele weinten. Andere sahen stumm auf das Meer hinaus, das ihre Angehörigen verschlungen hatte. Die Gewissheit lag tonnenschwer auf den Gemütern.
Hinter einem Eisberg, der wie ein Felsen wirkte, rot und schwarz beschmiert, tauchten weitere Dampfer auf. Die Mount Temple und die Californian stampften heran. Sie keuchten von der eiligen Fahrt.
»Wie viele Überlebende gibt es?«, fragte Nele einen Offizier, der gerade den Befehl gegeben hatte, die leeren Rettungsboote der Titanic hinaufzuziehen und an Deck aufzubocken.
»Etwa siebenhundert«, sagte er.
Das hieß, dass in dieser Nacht eintausendfünfhundert Menschen erfroren
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