Tanz unter Sternen
Flittchenleben.
Was, wenn sie inzwischen tatsächlich nach Vohwinkel gezogen war und Nele fand die Wohnung kalt und leer vor? Oder sie war vermietet an russische Auswanderer?
Neben der Nervosität war da auch ein wohltuendes Gefühl des Heimkehrens. Nele liebte das Unkraut, das aus dem hölzernen Pflaster der Ritterstraße spross. Sie liebte die fleckigen Hauswände. In die Wassertorstraße einzubiegen, ihr Zuhause seit so vielen Jahren, ließ sie aufatmen.
Die Maisonne schien warm auf die Toreinfahrt hinab. Auf der Straße übten die Jungs aus dem Nachbarhaus, auf Stelzen zu gehen, die sie selbst aus Besenstielen gefertigt hatten. Juchzend jagten sie einander .
Als sie den Hof betrat, freute sie sich über die vollen, fliegenumsurrten Mülleimer. Selbst der Toilettenverschlag war ihr vertraut und lieb. Der Altwarenhändler kniete daneben auf dem Boden, er putzte sein Fahrrad. Kurz sah er auf und nickte ihr zu. Es überraschte ihn nicht, sie zu sehen, wie sollte er auch wissen, dass sie mit knapper Not dem Tod entkommen war.
Im Hinterhaus stieg sie die knarrende alte Treppe hoch. Dann stand sie vor ihrer Tür. Sie hatte keinen Schlüssel mehr. Das war jetzt Mutters Leben, sie hatte sich daraus verabschiedet und konn te höchstens höflich fragen, ob sie zurückkehren durfte.
Nele klingelte. Sie hörte Schritte schlurfen, sie klangen wie die ihrer Mutter. Die Tür öffnete sich, und sie sahen sich in die Augen. Einen Moment lang geschah nichts, die Zeit war wie eingefroren. Schließlich zog ein Leuchten über Mutters Gesicht. Sie sagte: »Nele, Kind.«
Nach kurzem Zögern beugte sich Nele hinunter, um ihre Mutter zu umarmen. Die Mutter packte fest zu und zog sie an sich. »Ich hatte schon Angst, dich nie wiederzusehen«, sagte sie, und drückte gleich noch einmal zu. »Komm rein!«
Nele betrat die Wohnung. Sie kannte die Schimmelflecken an der Decke, den Fäulnisgeruch aus dem Küchenabfluss und die staubigen Bettkanten. Sie kannte das Gewühl der Töpfe und des Geschirrs. Ich lebe, dachte sie. Hier gehöre ich hin.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Mutter.
»Ich war in Paris. Und in New York.«
Der Mutter fiel die Kinnlade herunter.
»Ich habe den Untergang der Titanic überlebt.«
»Du warst auf diesem Schiff?« Nun wurden Mutters Augen feucht. »Setz dich und erzähle mir alles«, sagte sie.
Nele erzählte. Sie redete so frei wie seit Langem nicht mehr, sogar von Matheus berichtete sie, von ihrem Schmerz, ihn gehen zu lassen, und dass sie, seit sie vor einer Stunde in Berlin angekommen war, ständig daran denken musste, dass er womöglich ebenfalls hier war und sie sich über den Weg laufen könnten.
Fürsorglich heizte die Mutter den Ofen an, obwohl es Mai war – als glaubte sie, ihr damit nachträglich zu helfen, weil sie stundenlang im eisigen Wasser gestanden hatte. Draußen wurde es dunkel. Mutter entzündete das Licht.
Der gelbe Schein der Gaslampe, ihr Schnarren und Zischen waren Nele vertraut. »Und du, Mutter, was hast du gemacht?«, fragte sie.
»Nichts Besonderes.« Die Mutter winkte ab. »Habe Hemden genäht, wie immer.« Sie sah schweigend vor sich hin. Dann blickte sie auf.
»Und ich hab dich vermisst, schrecklich vermisst. Ich hab mich geärgert über mich selbst, hab mich geschämt dafür, wie ich mit dir geredet habe. Nele, es tut mir leid, dass ich dein Tanzen nicht ernst genommen habe.« Leise sagte sie: »Wenn du es noch einmal mit mir probieren willst, will ich in Zukunft versuchen, dich zu verstehen.«
Nele bekam vor Rührung eine Weile keine Antwort heraus. »Und ich suche mir eine Arbeit«, sagte sie schließlich. »Du musst nicht länger für die Miete aufkommen. Tanzen kann ich auch am Abend.«
Vor dem Zubettgehen füllte die Mutter die kupferne Wärmflasche mit heißen Kohlen, steckte die Flasche in den gestrickten Überzug und gab sie Nele ins Bett. Es war warm im Zimmer, eine Wärmflasche war nicht notwendig. Aber Nele verstand, wie die Mutter es meinte, und nahm sie gern.
Gleich nachdem sie ins Bett gestiegen war, biss die erste Wanze zu.
In Charlottenburg schrillte die Klingel der Singvogels. »So spät am Abend?«, wunderte sich Matheus.
Cäcilie sagte: »Das wird die Nachbarin sein. Geh zu ihr, wenn sie dich fragt, das ist in Ordnung.«
Matheus öffnete die Wohnungstür.
Frau Bodewell machte ein verzweifeltes Gesicht: »Es tut mir sehr leid, Herr Singvogel, dass ich Sie so spät noch störe. Meine Mutter spielt wieder verrückt. Ob Sie für einen Augenblick
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