Tanz unter Sternen
oder ertrunken waren. Nele versuchte, sie sich vorzustellen: der Berliner Alexanderplatz voller graugesichtiger Menschen mit leeren Blicken. Alle tot. Sie hörte wieder die Schreie, das Flehen um Hilfe und bekam Atemnot. Um sich abzulenken, fragte sie: »Wohin fahren wir?«
»Der Captain hat den Befehl gegeben, nach New York umzukehren. Übermorgen sollten wir dort ankommen.«
Auch als sich die Leute einer nach dem anderen ins Schiffsinnere zurückzogen, blieb sie an der Reling stehen. Sie war überreizt, als hätte sie drei Nächte nicht geschlafen. Sie stand da und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Ihr Herz tat ihr weh, weil Matheus ihr Cäcilie vorzog. Wenigstens erinnerte die Sonne sie daran, dass sie am Leben war.
Jemand stellte sich dicht neben sie. Kaum drehte sie sich zu ihm, fuhr es ihr heiß durch die Glieder. Wie konnte einen der Anblick eines Menschen derart elektrisieren?
Matheus blickte in die Ferne, als hoffte er, dort die Zukunft zu erkennen. Schließlich sagte er: »Sie ist meine Frau.«
Nele schluckte. »Ich weiß.« Sie würgte an Worten, quälte sich. »Ich liebe dich, Matheus. Darf ich dich lieben?«
Er sah zu ihr hinüber. »Ich würde mir das wünschen. Du glaubst gar nicht, wie sehr. Ich hab nie eine Frau getroffen wie dich.« Seine Augen waren gerötet. »Aber ich kann Cäcilie jetzt nicht allein lassen.«
»Und was sie dir angetan hat, spielt alles keine Rolle mehr? Sie wollte zu diesem Engländer! Hast du das schon vergessen?« Während sie es aussprach, schämte sie sich für ihren Egoismus. Natürlich brauchte Cäcilie ihn.
Er sagte: »Samuel ist tot, Nele.« Er sah auf seine Hände. »Cäcilie gibt sich die Schuld, verstehst du? Ich weiß niemanden außer mir, der sie trösten könnte.«
Das war es also: Endlich konnte er der starke Mann an Cäcilies Seite sein, weil sie schwach war nach dem Tod ihres Kindes.
»Es tut mir leid.« Er umarmte sie. »Leb wohl, Nele.«
Die Umarmung brachte sie noch mehr in Aufruhr. Das ganze Universum schien zu applaudieren, als sie sich berührten. Sie waren doch füreinander geschaffen! Das Mitleid täuschte Matheus, richtig wäre es, zu ihr, Nele, zu gehen und Cäcilie dem Engländer zu überlassen. Wie konnte sie ihm das sagen?
Sie brachte nichts heraus.
Matheus löste sich aus der Umarmung und ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
IV SCHULD
IV
Schuld
30
Sechs Wochen später verließ Nele den Potsdamer Bahnhof in Berlin. Mildtätige New Yorker hatten für sie gesammelt und ihr die Rückfahrt finanziert. Eine Elektrische der Linie 1 rumpelte vorüber, Stadtring, Richtung Rosentaler Tor. Das Kreischen der Bahn in den Schienen kam ihr fremd vor, wie eine Erinnerung aus weit zurückliegenden Jahren.
Sie ging am Museum für Völkerkunde vorbei. Der Eintritt war frei, sie war bereits zwei Mal darin gewesen und hatte die Schätze bewundert, die Schliemann in Troja ausgegraben hatte. Eines Tages würde man das Gold aus dem Bauch der Titanic bergen, wie Schliemann die Goldschätze aus den Hügeln des Osmanischen Reiches gescharrt hatte. Der Gedanke daran zog düstere Gedankenfetzen nach sich: die Schreie, die Toten. Nele schüttelte sich. Lieber erinnerte sie sich an einen Kuss auf ihrem Bett. Matheus hatte sie geküsst mit zärtlichem Verlangen. Nie würde sie das vergessen.
In der Friedrichstraße sah sie einen Mann, der Eisblöcke in den Keller eines noblen Wohnhauses schleppte. Männer mit Werbeplakaten auf der Brust und auf dem Rücken quälten sich durch den Verkehr, schmutzig und unrasiert, Arbeitslose, die sich ein paar Pfennige verdienten. Die Automobile hupten wütend, weil sie ihnen ausweichen mussten. Schuld war das Gesetz, die Werbetafelmänner durften nicht den Bürgersteig benutzen.
Hier war das Leben einfach weitergegangen, die Menschen hatten eingekauft, die Müllabfuhr hatte die Mülltonnen ausgelehrt, die Kinder waren zur Schule gegangen. Im Wintergarten waren die erfolgreichen Nummern fortgesetzt und die weniger erfolgreichen ausgetauscht worden. Währenddessen war sie, Nele, mit dem größten Dampfer der Welt im Atlantik untergangen. Wie zerbrechlich das Leben ist, und wie unvorhersehbar!
Je näher sie ihrer Straße kam, desto stärker wurde das nervöse Auf und Ab in ihrem Magen. Ich muss nicht hier sein , hatte die Mutter zu ihr gesagt. Ich kann morgen zurück nach Vohwinkel gehen, und dann kümmerst du dich allein um deine Wohnung und siehst einmal, in welche Lage du dich gebracht hast mit deinem
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