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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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kleiner. Gleichzeitig war die Mark durch die Schuldenwirtschaft und das ungehemmte Gelddrucken der Regierung nur noch halb so viel wert wie zu Beginn des Krieges. Viele Familien hungerten, auch Matheus und Cäcilie verbrachten die Tage mit knurrendem Magen. Aus Mangel an Getreide wurde das Brot mit gemahlenem Stroh gestreckt, es schmeckte bitter und reizte den Magen.
    Sie hassten den Krieg. Trotzdem gaben sie ihre Eheringe zur Kriegsfinanzierung hin und nahmen dafür eiserne Ringe entgegen mit der Aufschrift: »Gold gab ich für Eisen.« Sie hatten es satt, wegen der goldenen Ringe schief angesehen zu werden.
    Dann, endlich, war der Krieg verloren. Mehr als fünfzehn Millionen Menschen hatten ihr Leben gelassen. Vertreter der Regierungen unterzeichneten den Vertrag von Versailles. Das Deutsche Reich musste Elsass-Lothringen an Frankreich abtreten und Posen und Westpreußen an Polen, es verlor ein Siebtel seines Territoriums. Die Sieger verlangten außerdem hohe Reparationszahlungen, die Forderungen stiegen bis auf zweihundertneunundsechzig Milliarden Goldmark, die in zweiundvierzig Jahresraten bis 1962 abzuzahlen seien.
    Statt großer Beute, mit der die Kriegsanleihen an die Bevölkerung zurückerstattet werden sollten, stand das Deutsche Reich mit Bergen von Schulden da. Trotzig druckte die Regierung Papiergeld nach. Um zu beweisen, dass es dem Reich unmöglich war, die verlangten Reparationen zu bezahlen, ruinierte sich der Staat durch die Inflation.
    Einbeinige, Einarmige bettelten in den Straßen, Männer, denen Senfgas das Gesicht verätzt hatte. Cäcilie fühlte sich auf eine Weise, die sie Matheus nicht erklären konnte, für jedes einzelne Schicksal verantwortlich.
    Im Oktober 1921 besaß die Mark nur noch ein Hundertstel ihres Wertes vom August 1914, im Oktober 1922 ein Tausendstel. Ein weiteres Jahr später kostete ein US-Dollar mehr als vier Billionen Mark. Wer einen einfachen Brief verschicken wollte, zahlte zehn Milliarden Mark für die Briefmarke. Neue Geldscheine mit hohen Werten wurden gedruckt, jeder hatte bald Millionen im Portemonnaie, und wert waren sie nur Pfennige.
    Die Löhne der Arbeiter reichten kaum mehr zum Überleben, die Ersparnisse der Bürger zerschmolzen. Woche für Woche stieg die Arbeitslosigkeit. Die deutsche Wirtschaft brach zusammen.
    Jeden Abend redete Matheus mit Cäcilie. Er hielt ihre Hand, er nahm sie in den Arm, er sagte ihr, dass die Kriegstoten nicht ihre Schuld seien, genauso wenig, wie sie Schuld an Samuels Schicksal trage. Es war, als käme keines seiner Worte bei ihr an. Sie aß kaum noch, und auf ihrer blassen Haut zeichnete sich ein Schweißfilm ab, als litte sie unter Fieber.
    Samuels achtzehnter Geburtstag fiel auf einen Sonntag. Als Matheus am Morgen zum Gottesdienst aufbrach, entschuldigte sich Cäcilie, sie sei zu schwach, um mitzukommen. Ausgerechnet heute wollte Matheus sie aber auf keinen Fall allein lassen. Er schlug vor, ein Taxi zu bestellen.
    »Ich komme schon zurecht«, sagte sie, und lächelte. »Erzähl mir dann, wie die Predigt gelungen ist!«
    Er sagte: »Also gut. Bleib du im Bett. Ich komme sofort wieder, wenn der Gottesdienst vorüber ist, und koche für uns.« Er küsste sie auf die Stirn, sah ihr noch einmal besorgt ins Gesicht. Als sie erneut lächelte, ging er.
    Nach dem Gottesdienst war Cäcilie fort. Matheus rannte durch die Straßen, er suchte Cäcilies Lieblingsplätze ab, die Parkbank unter der Ulme, das kleine Café am Knie, die Schloßbrücke. Bei der Brücke über die Spree gab es einen Menschenauflauf. Er drängelte sich nach vorn. Polizisten knieten neben einem Körper, den sie aus dem Wasser gezogen hatten, einem Körper in Cäcilies zitronengelbem Kleid, schmächtig, abgemagert. Reglos.
    »Das ist meine Frau.« Matheus warf sich zu ihr auf den Boden. Er schüttelte ihre Schultern. »Cäcilie!« Er griff unter ihre Achseln, hievte sie in die Höhe. Aber der Leib blieb schlaff.
    Ein Polizist sagte: »Es tut mir leid. Sie ist tot.«
    Matheus hörte nicht zu. »Damit machst du ihn nicht wieder lebendig«, schrie er Cäcilie an, »du musst nicht ertrinken, du nicht! Warum trägst du denn diese verdammte Schuld?« Er sank nieder und ließ Cäcilie zu Boden rutschen. Tränen rannen ihm über die Wangen.

33
    Matheus räumte das Kinderzimmer aus, das Zimmer eines Siebenjährigen, der inzwischen achtzehn sein sollte. Er nahm die Bilder von der Wand, die sein Sohn gemalt hatte. Besonders lange hielt er eines in der Hand, auf dem eine Lok

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