Tanz unter Sternen
im Wintergarten aufgetreten?«, fragte er.
Nele seufzte vor Erleichterung. »Sie sprechen Deutsch!«
»Was haben Sie gemacht auf der Bühne?«
»Getanzt«, sagte sie. »Ich habe getanzt.«
»Hatten Sie denn Erfolg?«, fragte der Agent. »Wie lange lief Ihr Engagement?«
Ihr brach der Schweiß aus. Sollte sie lügen? Er konnte leicht nachprüfen, ob sie die Wahrheit sagte, ein Telephonanruf genügte. »Es lief nicht so gut«, sagte sie, »mein Tanz war zu anspruchsvoll. Aber ich kann etwas Neues einstudieren.«
Die Miene des Agenten blieb ungerührt, sie verriet nichts. »Wie oft sind Sie aufgetreten?«
»Einmal.«
»Hören Sie.« Der Agent stand hinter seinem Schreibtisch auf. »Ich werde überrannt von Jongleuren, Akrobaten, Dresseuren, Sängerinnen und Zauberkünstlern. Jeder will auf Tournee geschickt werden, jeder will an Theater und Bühnen vermittelt werden.« Er kam um den Schreibtisch herum und schüttelte Neles Hand. »Ich kann Ihnen leider nicht helfen, aber ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«
»Ich bin nach Paris gefahren«, flüsterte sie, »weil ich –«
»Als unbekannte Tänzerin haben Sie hier keine Chance.«
»Aber wie soll man bekannt werden, wenn man nicht auftreten darf?«
»Kleinere Bühnen, Beziehungen, Glück … Vertrauen Sie einfach darauf: Wenn Sie Talent haben, werden Sie sich durchsetzen, irgendwann.«
Bekümmert brachte der Alte sie hinaus. Sie setzten sich auf eine Bank. Nele war wie betäubt, sie sah auf den Gehweg und fühlte sich fremd. Keine einzige Straße kannte sie, keinen Platz, keinen Menschen. Mutters Ersparnisse waren aufgebraucht, vergeudet für eine Fahrt ins Nichts.
»Was mache ich jetzt?«, fragte sie.
»Du gibst nicht auf«, sagte der Alte. »Künstler immer Künstler.«
Der erste warme Tag des Jahres war eine Befreiung. Die Berliner strömten auf die Straßen, in die Parks, sie saßen vorm Café Kranzler an Tischen unter freiem Himmel. Samuel, der lange schweigend an Cäcilies Seite gegangen war, fragte: »Mama, was ist das?« Er zeigte auf drei Männer, die vor dem Neubau der Königlichen Bibliothek ein mannshohes Dreieck über den Gehweg trugen. Durch ein Kabel war ein Telephonhörer mit dem Dreieck verbunden, den hielt sich einer der drei Männer ans Ohr.
»Keine Ahnung, Schatz.«
Hinter ihr sagte eine Stimme mit britischem Akzent: »Die Männer suchen einen Leitungsschaden. Sie wollen ihn reparieren.«
Cäcilie fuhr herum. Aber der hochgewachsene Engländer beachtete sie gar nicht. Er kauerte sich neben Samuel, sein eleganter schwarzer Cutaway streifte den Boden, es kümmerte ihn nicht. Er nahm den Zylinder vom Kopf und wies mit dem silbernen Knauf seines Stocks in Richtung der Techniker. »Das Dreieck ist innen hohl. Darin ist Draht aufgewickelt. Durch induction « – er sagte dieses Wort in Englisch – »wird ein Ton erzeugt, wenn im Kabel Strom fließt. Diesen Ton hört der Mann im Kopfhörer.«
»Wo ist das Kabel?«, fragte Samuel.
»Unterirdisch. Es ist genau unter den Männern.«
Samuel sah staunend zum Dreieck hin. »Warum will er den Ton hören?«
»Wo das Kabel beschädigt ist, entweicht Strom in den Boden. Dort verstummt der Ton. Dann wissen die Techniker, wo Reparaturen nötig sind.«
Die Männer trugen das Dreieck weiter. Angestrengt lauschte der eine von ihnen in den Hörer, als spräche die Erde zu ihm, als erzählte sie ihm eine lange Geschichte.
»Gehen sie durch die ganze Stadt und hören alle Kabel ab?«
Lyman Tundale lachte. »Nein. You’re a smart boy. Sie sind nur hier, weil es einen Schaden gibt. Irgendwo kommt der Strom nicht an, wie er soll.« Er stand auf. »Wie geht es Ihnen heute, Miss?«
Wie wagemutig der Engländer war! Matheus hat mich nie so begehrt, dachte sie. »Samuel, siehst du die Kutsche vorn am Straßenrand? Wenn du magst, darfst du dir die Pferde anschauen gehen. Vielleicht erlaubt dir der Kutscher, dass du ihnen über die Nüstern streichelst.«
Der Junge schlenderte hin. Tatsächlich nickte der Kutscher gütig, und Samuel durfte die Pferde streicheln. In diesem Augenblick, wo sie ihn glücklich sah, wurde sie sich der Gefahr bewusst, in die sie sich begeben hatte. Ein Nachbar konnte vorbeikommen und sie mit dem Engländer sehen. Oder Samuel selbst schöpfte Verdacht, oft schon hatte er sie mit seinen Beobachtungen verblüfft.
»Dass Sie die Stirn haben, mich hier anzusprechen«, sagte sie. »Jeder kann uns sehen. Und wer weiß, was Samuel heute seinem Vater erzählt.«
»Spielen Sie die
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