Tanz unter Sternen
kurzhaarige Frauen mit ausrasiertem Nacken. Trotz einfarbiger Verbindung von Rock und Jacke betonten sie mit erotischen Gürteln die Hüfte oder trugen Tangoschuhe, deren Bänder gekreuzt über die Waden gewickelt wurden. Nur eines konnten sie nicht oder gaben vor, es nicht zu können: Deutsch.
Ein blondes kleines Kerlchen tippelte zwischen einer Frau und einem Mann die ersten Schritte, während beide entzückt auf Französisch nach ihm riefen. Die werden mir sicher auch nicht weiterhelfen, dachte Nele.
Aus der Ferne höhnte der Eiffelturm, das höchste Bauwerk der Erde – so karg wie sein rostbraunes Stahlfachwerk, durch das der Wind pfiff, würde auch ihr Parisaufenthalt werden. Sie hatte keine Bleibe, keine Bühne, keinen Menschen.
Stundenlang irrte sie schon umher, sie fand nicht einmal zurück zum Bahnhof. Verzweifelt sprach sie einen alten Mann an, der an einer Straßenecke mit fünf Bällen jonglierte und in einer Mütze, die vor ihm auf dem Boden lag, Spenden sammelte. Vielleicht konnte er ihr ins Artistenmilieu hineinhelfen.
Er lächelte auf ihre Frage hin und sagte in gebrochenem Deutsch: »Sie wollen Agentur?«
»Künstleragentur, ja. Tanzen!« Nele hob die Arme, als hielte sie einen unsichtbaren Tänzer, und machte einige Walzerschritte.
»Künstleragentur. Ich auch.«
Sie runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie sich zu früh gefreut, jemanden gefunden zu haben, der Deutsch sprach. Der alte Mann war nicht richtig im Kopf.
»Ich auch, in anderem Leben!«, sagte er.
Nun fing er auch noch mit Wiedergeburtslegenden an.
»Ich nichts Franzose, ich nur hier gekommen für Kunst.« Er legte die Bälle in die Mütze, zog den Mantel aus und krempelte sich die Hemdsärmel hoch.
»Lassen Sie«, sagte Nele. »Ich werde mich schon zurechtfinden.«
Der Greis sprang in einen Handstand. Er lief mit den Händen auf dem Gehweg, die Beine gekrümmt vom Alter, hochrot der Kopf, und rief stolz: »Siehst? Siehst?« Dann kippte er um und krachte auf die Straße.
»Haben Sie sich wehgetan?« Nele hastete zu ihm hin.
Schon stand er auf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die Hüfte, und versuchte gleichzeitig ein Lächeln. »Nichts wehgetan. Ich Artist!«
»Sind Sie wirklich Artist?«
Er nickte heftig. »Große Bühne! Moulin Rouge, Canterbury Hall, Wintergarten …«
»Sie sind im Wintergarten aufgetreten, in Berlin?« Nele riss die Augen auf.
Stolz bejahte er. »Große Bühne.«
»Ich weiß. Ich bin auch dort aufgetreten.«
Freudig packte er ihre Arme. Seine wasserblauen Greisenaugen sahen ihr ins Gesicht. »Künstlerin! Junge, schöne Künstlerin. Ich helfen.« Er nahm seinen Mantel auf und die Mütze mit den Bällen und zog Nele vorwärts. »Künstleragentur«, sagte er.
Um Hausecken zog er sie, über breite Straßen, vorüber an einem Schlachthof, einer Schule mit lärmenden Kindern, Wohnhäusern. »Wintergarten«, sagte er immer wieder und strahlte.
Eine internationale Künstleragentur … Wenn dieser Mann in jungen Jahren ein solcher Star gewesen war, dann konnte er ihr Türen öffnen. Oft hatte sie in Berlin den Agenten aufgelauert. Sie tauchten nachmittags ab fünf Uhr in den Cafés auf, Männer mit wallendem Haar und zerknitterten Anzügen. In ihre Geschäftsbüros war sie nie vorgelassen worden, also hatte sie im Café ihre Gespräche belauscht, über Konzertreisen, Bühnen in Russland und Amerika, über unpünktliche Künstler, Honorare. Aber sobald sie an ihren Tisch getreten war, um sich vorzustellen, hatten die Agenten sie jedes Mal rüde abgewiesen. Sie wollten Erfolge vorgewiesen bekom men, ehe sie einen als Klienten aufnahmen, Erfolge, die man erst erreichte, wenn man einen Agenten hatte, es war ein Teufelskreis.
Der Alte zog Nele vor ein Haus, das in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts sicher prächtig gewesen war. Putz bröckelte, und die steinernen Engelchen vor dem Eingang hatten vom Schmutz schwarze Gesichter.
Eine mit rotem Teppich bespannte Treppe führte im Haus zur Agentur im ersten Stock. Der Artist trat ein und zog Nele mit. Drinnen sagte er Unverständliches zur Vorzimmerdame, und brachte Nele ins Büro. Hier hatte sich Zigarettenrauch in den Tapeten festgesetzt. Die Wände waren mit farbigen Plakaten bedeckt, dazwischen hingen verwelkte Lorbeerkränze.
Der Alte redete in französischer Sprache auf den Agenten ein, einen Mann Mitte fünfzig mit gewellten, grauen Haaren und Fal kenaugen. Schließlich wandte sich der Agent Nele zu und musterte sie. »Sie sind
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