Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
Vom Netzwerk:
von den Nachbarjungs, die ihn als Mädchen beschimpften und behaupteten, er würde sich vor Angst in die Hosen machen – sie hatten sogar so getan, als sähe man tatsächlich einen Pinkelfleck an seiner Hose.
    Nach und nach verließen die anderen Leute die Bibliothek, er blieb allein zurück, nur der Bibliothekar war noch da, er saß an seinem Tisch und zählte die eingegangenen Leihkarten. Was sollte auf einem Schiff schon passieren? Bis sie heute Nachmittag in Queenstown anlegten, konnte niemand Gefährliches an Bord kom men. Samuel stand auf. Sicher gab es weitere zauberhafte Orte auf diesem Dampfer zu entdecken. Er stellte das Buch zurück in den Schrank und ging zur Tür. Leise öffnete er sie und schlüpfte hinaus.
    Neben der Bibliothekstür hing ein Briefkasten an der Wand. Wie magisch dieses Schiff war! Ein Briefkasten mitten auf dem Ozean. Brachten sie die Briefe per Zauberei in die fernen Länder, wo die Empfänger auf ihre Post warteten? Oder hatten sie Tauben an Bord?
    Eine Treppe führte hinab ins Innere des Schiffs. Samuel folgte ihr, zaghaft zuerst, dann mutiger. Nach zwei Etagen bog er in einen Flur ab und blieb verblüfft stehen. Der Flur war so lang wie seine Straße in Berlin. Er musste durch das gesamte Schiff führen, von einem Ende zum anderen. Samuel spazierte los. An einer Tür hing ein Schild, er buchstabierte es: First Class Only. Das verstand er nicht, es musste Englisch sein. Im Türschloss knirschte es. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann stürzte heraus, er prallte gegen ihn. Beide fielen hin. Der Mann rief: »Damn!« Er rappelte sich auf und rannte den Flur hinunter.
    Samuels Rippen schmerzten, der Mann war offenbar sehr knochig gewesen. Etwas funkelte am Boden. Samuel hob es auf. Da kamen drei weitere Männer durch die Tür. Sie trugen Uniformen und rannten dem ersten nach, stämmige Männer, wie Hunde, die eine Katze verfolgten.
    Samuel sah sich an, was er aufgelesen hatte. Einen Ring, golden, mit einem weiß blitzenden Stein. Was sollte er damit machen? Bestimmt hatte der Kerl mit den langen Spinnenbeinen ihn gestohlen. Am besten gab er ihn bei einem Schiffsoffizier ab.
    Der Flur war wieder leer, die drei »Hunde« waren verschwunden. Verprügelten sie den Hageren, wenn sie ihn fingen? Samuel klammerte die Faust um den Ring. Er stand auf und ging einige Schritte.
    Eine Kabinentür schwang auf. Jemand sagte: »Come here.« Es klang wie: Komm her. Als Samuel durch den Türrahmen blickte, erschrak er: Es war der Dieb! Das hagere Gesicht mit den großen Augen, der dünne Körper, die zigarettengelben Finger – Samuel blieb vor Angst das Herz stehen.
    Er presste die Faust um den Ring zusammen und ging weiter. Um sich nichts anmerken zu lassen und den Puls zu beruhigen, hielt er die Luft an.
    Die Hand des Diebes schnellte vor, und Samuel wurde in die Kabine gezogen. Der Dieb schloss hinter ihm die Tür. Er befahl etwas auf Englisch.
    Samuel flüsterte: »Ich verstehe nicht.«
    »What?«
    »Ich kann Sie nicht verstehen.«
    »Du sprichst Deutsch?« Der Dieb beugte sich herab, um Samuel in die Augen zu sehen.
    »Ja.«
    Er steckte die flache Hand aus. »Gib ihn mir.«
    Samuel legte den Ring in die Hand des Mannes.
    »Jetzt kannst du verschwinden.«
    Aus Angst, wieder von ihm gepackt zu werden, ging Samuel in einem Bogen zur Tür.
    »Was läufst du überhaupt mutterseelenallein rum?«, fragte der Dieb.
    »Ich sehe mir das Schiff an.«
    »Warte!«, befahl er.
    Samuel blieb stehen. Er sah sich nicht um. Lassen Sie mich gehen, flehte er in Gedanken.
    Der spinnenbeinige Mann kam heran und stellte sich neben ihn. »Ich bin Adam. Wie heißt du?«
    »Samuel.«
    »Hast du Angst vor mir?«
    Samuel schwieg.
    »Musst du nicht haben. Ich tue dir nichts. Du willst dir das Schiff anschauen? Ich kann dir eine Menge zeigen, ich habe Schlüssel.«
    Ihn schwindelte, als stünde er an einem Abgrund. Der Mund war ausgetrocknet, die Zunge klebte am Gaumen.
    »Wir erkunden das Schiff zusammen, einverstanden?«
    Samuel schüttelte den Kopf.
    »Du musst nichts machen. Ich geh in die eine oder andere Kabine und hole Sachen ab. Wenn uns jemand anspricht, sagst du, du hättest dich verlaufen. Wahrscheinlich verstehen sie dich sowieso nicht. Überlass das Erklären mir. Ich werde ihnen sagen, dass ich dich aufgegabelt habe und dir helfe, deine Kabine zu finden.« Er schob Samuel zur Tür hinaus.
    Ich muss wegrennen, dachte er. Aber der Dieb war vorhin sehr schnell gewesen, auf seinen langen Beinen könnte er ihn

Weitere Kostenlose Bücher