Tanz unter Sternen
kunstvoll gefaltet. Das Besteck glänzte, in die Griffe war der fünfzackige Stern eingraviert, das Symbol der White Star Line. Drei Musiker spielten dezente Stücke für Violine, Cello und Klavier.
Cäcilie lobte jeden Gang der Speisenfolge, und sie sah sich nach den anderen Passagieren um, nicht schüchtern wie er, der sich fühlte, als habe er sich unrechtmäßig eingeschlichen, sondern so, als gehöre jeder hier zur Familie.
An ihrem Tisch kämmte sich ein Mann mit grau meliertem Backenbart jedes Mal, wenn die Kellner eine neue Speise brachten, die Haare. Seine Frau tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel. Matheus war nervös gewesen, als die beiden kamen, er hatte ihre Namen nicht verstanden. Dennoch nickten sie ihm häufig zu und lächelten.
Als zum Abschluss Eis serviert wurde, sagte der Herr etwas, das Matheus schon wieder nicht verstand. Das Englisch dieses Herrn war ungewohnt, die Vokale hatten einen dunklen Beiklang, der es schwer machte, die Worte zu entschlüsseln. Matheus bat um Verzeihung. Hatte der Herr coal strike gesagt?
»Schön, wie wir den Kohlestreik austricksen«, sagte der Herr noch einmal. Jetzt gab er sich Mühe, ein langsames, klares Englisch zu sprechen.
Cäcilie widersprach: »Aber der soll doch seit vier Tagen vorbei sein. Die Bergarbeiter streiken nicht mehr.«
»Sehen Sie sich die Häfen an!« Der gut gekämmte Herr sagte es freundlich. »Sie sind übervoll mit Schiffen, keiner kann fahren, weil es an Kohle mangelt.«
»It’s so bad?« , fragte Matheus.
»In England sitzen die meisten Schiffe fest, man kommt nicht mehr weg. Sehen Sie, wie fröhlich und engagiert die Crew zugange ist? Diese Leute sind glücklich, dass sie eine Arbeit bekommen haben. Sie waren vermutlich seit Wochen arbeitslos. Und jetzt haben sie auf dem modernsten Schiff der Welt angeheuert.«
Cäcilie fragte: »Woher hat denn die Titanic ihre Kohle?«
»Die White Star Line hat alles zusammengekratzt«, sagte der Herr, »was sie in ihren anderen Schiffen noch an Kohle übrig hatte. Die Titanic hat so gerade genug, um nach New York zu kommen. Wir fahren nicht mit Höchstgeschwindigkeit, ich bin sicher, sie haben Angst, dass uns sonst unterwegs die Kohle ausgeht.«
»Und in New York bleibt das Schiff liegen?«
»In New York gibt’s keinen Streik. Da können sie die Kohlebunker vollmachen.«
Matheus stellte sich vor, wie er plötzlich einen Hustenanfall erlitt und Blut spuckte, wie er zu Boden fiel, sich krümmte und wand und im Sterben lag und wie sie dann alle zu ihm hinstürzten. Welchen Aufruhr das im noblen Speisesaal geben würde! Die Menschen wären sicher entsetzt, ihn so hilflos zu sehen.
Zwischen zwei Löffeln Eis sagte Samuel leise: »Können wir nach dem Essen nach oben gehen und vom Schiff runtergucken?«
Sie versprachen es.
Lyman Tundale war an Bord! Sie hatte ihn bereits im Tender entdeckt, aber natürlich so wenig wie möglich hinübergeschaut, um Ma theus nicht auf ihn aufmerksam zu machen. Samuel war zum Glück durch das beeindruckende Schiff abgelenkt gewesen, sonst hätte er womöglich den Engländer wiedererkannt. Was machte Lyman Tundale auf der Titanic? War er ihretwegen hier? Sie wärmte sich an diesem Gedanken, es war, als sei die Sonne nach einem langen Winter zurückgekehrt.
Lautlos schwebten die Kellner durch den eichengetäfelten Spei sesaal, räumten Teller ab, servierten, gossen Wein nach. Aus einer nahe gelegenen Backstube strömte Kuchenduft. »So lässt sich’s leben«, sagte Cäcilie. Sie erinnerte sich an den Gestank der Plumpsklos im Hinterhof in Berlin, daran, wie jedes Mal der Geruch in die Wohnung gezogen war, wenn sie lüfteten. Jahrelang hatte sie sich geärgert, dass die Bewohner des Hinterhauses keine Toiletten in ihren Wohnungen hatten. Sie war froh, der Berliner Wohnung entkommen zu sein.
»Kommt, gehen wir rauf«, sagte sie. Am Lift mussten sie einen Moment warten, andere Fahrgäste hatten dieselbe Idee gehabt. Dann fuhren sie drei Etagen hinauf bis unter das Dach. Sie verließen den Fahrstuhl. Boat Deck stand an einer Tür. Cäcilie öffnete sie.
Sofort war da das Rauschen des Meeres, der Wind, die klare Seeluft. Sie waren frei, sie befanden sich mitten auf dem Meer. Nacht und Wasser umgaben sie, nur in der Ferne funkelten einige Küstenlichter.
»Ist das schon Irland?«, fragte Samuel.
»Nein.« Matheus legte ihm die Hand auf den schmalen Rücken. »Da kommen wir erst morgen an. Das hier wird noch die englische Küste sein.«
Die See war rau.
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