Tanz unter Sternen
Der Wind wehte ungebändigt, er holte zu großen Böen aus und entfaltete seine ganze Kraft.
Von den Schornsteinen führten dicke Drahtseile zur Reling. Samuel stellte sich auf die Zehenspitzen und befühlte eines. »Was ist das, Papa?«
»Die Seile halten die Schornsteine fest.«
Samuel sah sich die geschwärzten Finger an. Er wird doch nicht …?, dachte Cäcilie – da wischte er sie sich schon an der Hose ab.
Sie packte seine Hand. »Samuel, wir werden eine ganze Woche auf dem Schiff sein, und ich kann hier nirgendwo Wäsche waschen. Willst du mit einer fleckigen Hose herumlaufen?«
»Verzeihung, Mama.«
Matheus sah sich die weißen Rettungsboote an, die auf Brust höhe an Ladebäumen hingen. Sie ahnte, was er dachte. Das wogen de Meer machte ihm Angst, er stellte sich wahrscheinlich vor, wie sie kenterten. Mittlerweile waren sie acht Jahre verheiratet. Seine Gedanken waren ihr vertraut wie ein muffiges Wohnzimmer.
»Die sind höher als unser Haus«, sagte Samuel. Er legte den Kopf in den Nacken und sah an einem der Schornsteine hinauf. »Bis an die Wolken reichen die.« Und wirklich, die vier Schornsteine ragten höher in den Himmel als das pompöse neugebaute Rathaus Charlottenburg.
Matheus sagte: »Vorn ist die Brücke, Samuel, da wird das Schiff gesteuert. Ist das nicht erstaunlich? Mit einem einzigen Steuerrad lenkt der Kapitän diese ganze Eisenstadt.« Er trat an die Reling. »Die Brücke überragt das Schiff, komm, ich halte dich fest, dann kannst du gucken. Siehst du es?« Er wartete, bis Samuel sich an die Reling herantraute. »Man nennt so etwas Brückenflügel. Die Schiffsoffiziere können alle Richtungen beobachten, wenn sie das Schiff manövrieren, sie sehen direkt runter zum Wasser und die ganze Schiffsseite lang.«
»Ist das der Kapitän, Papa?«
»Wo?«
»Da drüben mit dem anderen Mann?«
Auf der benachbarten Promenade standen zwei Männer zusam men. Einer trug Offiziersuniform, gegen den schwarzen Kragen hob sich sein weißer Bart ab. Er hatte etwas Herrschaftliches an sich, der aufrechte Rücken, die ruhigen Bewegungen der Hände strahl ten Souveränität aus. Als Cäcilie den anderen besah, erstarrte sie.
Matheus setzte Samuel ab. »Das könnte sein. Der weiße Bart, die Uniform – ja, du könntest recht haben.«
Der Mann gab dem Kapitän die Hand. Cäcilie sah sein Gesicht. Die schmalen Lippen, die feinen Gesichtszüge – sie hätte ihn unter Hunderttausenden erkannt.
Lyman Tundale verabschiedete sich vom Kapitän. Er ging zur Tür, die ins Schiffsinnere führte, und öffnete sie. Eine Frau trat heraus. Er redete mit ihr, legte ihr den Arm um die Hüfte. Gemeinsam spazierten sie zur Reling.
Das konnte nicht sein, das war unmöglich! Cäcilie hasste diese Frau im Pelzmantel, ihre Locken, ihre Handschuhhände, die sich an die Reling schmiegten. Du tust mir weh, Lyman Tundale, dachte sie.
10
Samuel musste jedes Wort mühevoll buchstabieren. Trotzdem liebte er Bücher und besuchte gern ihre Ferienheime, die Bibliotheken. Auf der Titanic gab es zwei davon, eine für die Bücher erster Klasse und eine für die Bücher zweiter Klasse. Die Bücher fuhren mit dem Ozeandampfer um die halbe Welt, eine Vorstellung, die ihn belustigte.
Ab und an kamen Leute herein und spazierten an den Regalen vorüber, nahmen einen Band heraus, blätterten, lasen. Er hätte sie gern gebeten, ihm vorzulesen, aber sie redeten eine fremde Sprache. Den Eltern hatte er versprochen, die Bibliothek nicht zu verlassen, und sie hatten gesagt, sie würden ihn zum Mittagessen hier ab holen. Er sah sich die Bilder in einem Buch über Tiere an und ent zifferte die englischen Bildunterschriften. Cat, elephant und tiger verstand er ohne Probleme. Aber was waren ein sloth und ein armadillo? Auf den Bildern wirkten sie wie Märchentiere.
Er schloss die Augen und lauschte. Aus dem Schiffsinneren drang das Stampfen der Motoren. Die Jungs in Berlin mussten jetzt aufrecht in ihren Schulbänken sitzen und wiederholen, was der Lehrer ihnen sagte. Stattdessen auf dem Schiff zu sein, kam ihm verboten vor. Ein Gefühl, als wäre er von zu Hause abgehauen, um die Welt zu bereisen.
Fort von den Halbstarken, die ihn regelmäßig gezwungen hatten, im Handwagen zu sitzen, während sie damit durch die Straßen rasten. Zweimal hatte er sich den Kopf blutig geschlagen, als der Wagen in einer Kurve umkippte, bis er begriff, dass sie ihn absichtlich umkippen ließen, um ihn, Samuel, über das Straßenpflaster fliegen zu sehen.
Fort
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