Tanz unter Sternen
fragte er. »Das haben Sie mir noch nicht gesagt.«
»Von deinem Vater. Ich stamme aus Berlin wie ihr. Allerdings aus der Luisenstadt. Deswegen fahre ich auch dritter Klasse. Ich bin arm wie eine Kirchenmaus.«
»Bei uns in der Kirche gibt es wirklich eine Maus«, sagte er begeistert. »Ich habe sie mal mit Brotkrümeln gefüttert, nach dem Bibelunterricht.«
»Komm, gehen wir essen. Wenn du dich gut benimmst, nehme ich dich hinterher in den Aufenthaltsraum der dritten Klasse mit, da steht ein Klavier. Es gibt ein paar Iren, die spielen ganz ausgezeichnet. Und natürlich essen wir keinen Zwieback, es gibt Suppe, gekochtes Hammelfleisch mit Kapernsoße und zum Nachtisch Kompott, du wirst sehen, es schmeckt gut.«
21
D er Boden war glatt gefroren. Matheus musste sich an der Reling festhalten, um nicht auszurutschen. Eben noch hatte es genieselt, aber binnen Minuten war es so kalt geworden, dass die Nässe auf dem Schiff einen Eispanzer bildete. Auch das Metall der Reling war von Eis umschlossen, seine Hand schmerzte von der kalten Berührung.
»Ich möchte sterben, Gott«, sagte er.
Cäcilie tat ganz recht daran, ihn zu verlassen. Er hatte sie geschlagen! Männer, die ihre Frau schlugen, hatte er immer verachtet. Nun war er selbst so einer.
Er sah hinunter in das schwarze Wasser. Es würde in seine Lunge eindringen und ihn ersticken. Dann war er das Herzreißen los, das ihn quälte. Das Wasser konnte ihn freimachen. Hatte er deshalb so oft vom Ertrinken geträumt, weil sein Leben heute so endete? Er sah zum Himmel, aber die kalte Welt tröstete ihn nicht, und Gott schwieg.
Mit dieser Reise hatte er Cäcilie beweisen wollen, dass sie mit ihm ein Abenteuer erleben konnte. Er hatte ihre Bewunderung erlangen wollen. Jetzt hatte sie noch die letzte Achtung vor ihm verloren.
Auch Samuel hatte er vernachlässigt. War das nicht seine Aufgabe gewesen, ein guter Vater zu sein, dem Jungen vorzulesen, mit ihm die Welt zu entdecken? Wann hatte er ihm schon wirklich zugehört, wann hatte er sich für seine Sorgen interessiert? Samuel war einsam, er wünschte sich einen Freund. Vielleicht hätte er, Matheus, dieser Freund sein sollen.
»Ich habe versagt. Ich habe das Leben, das du mir gegeben hast, vergeudet«, flüsterte er. »Was jetzt, Gott? Was fängst du mit einem an, der zu schwach war?«
Selbst Gott hatte ihn verlassen. Er konnte mit einem wie ihm nichts anfangen, er brauchte einen mutigen David, der sich Goliath entgegenwarf, keinen, der seine Frau schlug.
Es wird allen besser gehen, wenn ich weg bin, dachte er. Auf einem Röntgenbild hatte er einmal die knöchernen Finger seiner Hand gesehen. Es war gespenstisch gewesen, wie eine Vorausschau auf den Tod. Der Tod lauerte bereits in ihm, er wartete nur darauf, ausbrechen zu können.
Nele erkannte es auf den ersten Blick, Matheus war verzweifelt. Einsam stand er an der Reling. Der Wind zerpflückte das Krähennest von Haaren auf seinem Kopf. Warum werfe ich mich an die Unglücklichen heran?, fragte sie sich. Sie trat neben ihn. »Das meinte ich aber nicht, als ich Ihnen geraten habe, sich mal etwas Gutes zu tun.«
Er drehte sich zu ihr. »Nele.«
»Sie sehen aus, als gäb’s heute Weltuntergang.«
»Ich habe Cäcilie geschlagen.« Sein Blick war leer.
»Das mögen wir Frauen nicht besonders. Hat sie gedroht, Sie zu verlassen?«
»Ich habe es verdient.«
»Allerdings, das haben Sie. Streit kann es ja mal geben, aber Sie dürfen nicht zuschlagen. Und Ihren Kleinen haben Sie raus in die Kälte geschickt.«
Er riss die Augen auf. »Samuel! Wo ist er?«
»Keine Sorge. Ich hab ihn mit reingenommen. Wir haben zusammen gegessen, und jetzt ist er mit seinem Freund Adam losgezogen.«
»Danke. Vielen Dank.«
»Sie sollten nicht hier draußen rumstehen. Da wird Ihnen doch die Nase zum Eiszapfen. Kommen Sie mit, im Aufenthaltsraum der dritten Klasse können wir uns unterhalten. Sie schulden Ihrer Frau eine Entschuldigung, wir müssen uns was einfallen lassen.«
»Dafür ist es zu spät.«
»Glaube ich nicht. Wenn sich ihre Wut erst mal gelegt hat, können Sie sich versöhnen. Ich weiß, wie eine Frau fühlt. Kommen Sie.«
Lethargisch folgte er ihr durch das Schiff. In der Tür zum Aufenthaltsraum blieb er stehen. Er sah befremdet auf die Karten- und Dominospieler, auf Gestalten, die laut und in unverständlichen Sprachen palaverten.
»Keine Angst, die tun Ihnen nichts.«
»Mir ist jetzt eher nach Alleinsein zumute«, sagte er.
»Stört Sie der Lärm? Oder
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