Tanz unter Sternen
Sie, er hat gefroren da draußen.
Nele blieb vor der Tür stehen. »D dreiundfünfzig, das ist doch richtig?«, fragte sie.
Samuel nickte.
Sie klopfte an und lauschte. Drinnen war es ruhig. Dann hatten sie also aufgehört zu streiten und würden ihr dankbar sein, dass sie ihnen den Kleinen brachte. Sie klopfte noch einmal, aber es blieb still. Die Tür war unverschlossen. Vorsichtig spähte sie in die Kabine. »Niemand da. Wahrscheinlich sind sie unterwegs, um dich zu holen. Komm.« Sie zog ihn hinein. Immer noch war seine Hand eiskalt. »Setz dich aufs Bett.«
Sie öffnete den Schrank. Er sah überhaupt nicht aus, als sei Familie Singvogel auf Reisen. Sämtliche Kleidungsstücke waren fein zusammengelegt. Man hätte den Schrank als Musterbeispiel für die Ausbildung von Dienstmädchen verwenden können. Von dieser Ordnungsliebe könnte ich mir ein Scheibchen abschneiden, dachte sie. Sie nahm sich ein Handtuch vom Stapel und trat zu Samuel hinüber.
Er hatte sich hingesetzt und starrte vor sich hin. Die Lippen waren blau, und er zitterte, aber er kam offenbar nicht auf die Idee, sich die Bettdecke umzulegen und sich zu wärmen. »Ganz der Vater«, sagte sie. Sie legte das Handtuch beiseite und wickelte den Kleinen in die Bettdecke ein. »Du musst dich besser um dich kümmern! Wie alt bist du?«
»Sieben.«
»Hör mal, mit sieben Jahren, da muss man auch schon ein bisschen selbst auf sich achtgeben. Du frierst doch!« Sie nahm das Handtuch und begann, ihm die Haare zu trocknen. Er ließ es mit sich geschehen, als wäre es das Natürlichste der Welt, dass sie ihm mit dem Handtuch durch den Haarschopf fuhr. Das Zittern hörte auf, und auch die Lippen bekamen allmählich eine rote Farbe. Das zu sehen, weitete ihr das Herz.
Seltsam, wie die Muttergefühle sie übermannten. Sie hätte nie geglaubt, dass ihr das passieren würde. Hatte ihre Mutter auch so empfunden? War sie deshalb so streng mit ihr gewesen, hatte sie ihr deshalb jeden Tag ins Gewissen geredet? Wie ungerecht es von ihr gewesen war, die Mutter im Stich zu lassen. Alles, was sie getan hatte, war, sich um ihre Tochter zu sorgen.
Sie sehnte sich plötzlich danach, Mutters Gesicht zu sehen, ihre Stimme zu hören. Fehlten dem Kleinen die Eltern genauso? Er machte sich bestimmt Sorgen, dass seine Familie auseinanderbrach, weil sie so viel stritten. Nele sang:
Weißt du wie viel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt?
Weißt du wie viel Wolken gehen
Weithin über alle Welt?
Gott, der Herr, hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
An der ganzen großen Zahl,
An der ganzen großen Zahl.
Samuel verzog das Gesicht. »Das ist ein Kinderlied!«
»Aber ein Schönes, das musst du zugeben.«
Unvermittelt stiegen dem Jungen Tränen in die Augen. »Wenn sie an Deck gegangen wären, um mich zu holen, dann wären sie längst wieder hier.«
»Die haben dich nicht vergessen, Samuel. So etwas darfst du nicht denken!«
»Vielleicht ist Papa böse auf mich. Mama hat mir Kekse gekauft, und er findet es schlimm, dass sie Geld ausgibt, wo wir doch schon die teure Reise machen. Bestimmt denkt er, ich habe die Kekse haben wollen und Mama danach gefragt.«
»Und wenn’s so wäre! Samuel, tausend Kinder fragen ihre Mütter nach etwas, und die Mütter sagen Ja oder Nein, je nachdem, was es ist und ob sie es bezahlen wollen. Du kannst überhaupt nichts für den Streit deiner Eltern, das steht schon mal fest.« Sie musste ihn ablenken. Wenn die beiden noch länger ausblieben, würde es von Minute zu Minute schlimmer werden mit ihm.
Sie sah auf die Uhr. »Weißt du was? Die Gottesdienste müssten jetzt rum sein. Hast du Lust, mit mir in der dritten Klasse zu essen? Ich kläre das mit den Stewards, dafür sparen sie ja ein Essen in der zweiten Klasse ein. Es macht dir doch nichts aus, heute einmal Zwieback mit Wasser zu essen?«
»In der dritten Klasse gibt’s bloß Zwieback?« Er sah sie ungläubig an.
Schon habe ich ihn auf andere Gedanken gebracht, dachte sie. »Nur wer sich freiwillig zum Kohlenschippen meldet, bekommt dazu eine Schale Kartoffelsuppe.«
Er kniff die Augen zusammen. Dann musste er lachen, und sie lachte mit ihm, und er sagte: »Wer das Deck schrubbt, kriegt einen Apfel.«
»Und wer die Teller abwäscht, kriegt ein Stück Brot«, ergänzte sie.
Er sagte: »Man kann auch dem Kapitän die Schuhe putzen. Für eine Gurke.«
»Oder mit einem Ruder bei der Überfahrt helfen für ein Hühnerbein.«
»Woher wussten Sie meinen Namen?«,
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